Neue NVL empfiehlt bei chronischen Kreuzschmerzen Bewegung statt Bettruhe: Chance für Therapeuten, Selbstzahlerleistungen anzubieten

Sie richtet sich an alle Ärzte/innen der angesprochenen Versorgungsbereiche, Heilmittelerbringer (Physiotherapie, Ergotherapie, Psychotherapie), betroffene Patienten und deren soziales Umfeld, Kostenträger, Entscheider und Vertragsverantwortlichen im Gesundheitswesen.
Eine Versorgungsleitlinie ist zwar keine ausdrückliche „Richtlinie im Sinne einer Regelung des Handelns und Unterlassens“, die durch eine rechtlich legitimierte Institution veröffentlicht wurde – und somit unverbindlich. Allerdings lesen Ärzte diese und richten sich häufig in ihrem Versorgungsverhalten nach den jeweiligen Empfehlungen. Aus diesem Grund macht es auch für Heilmittelerbringer Sinn, sich mit diesen evidenzbasierten Empfehlungen auseinander zu setzen.
Für den Bereich der Heilmitteltherapie stellt die Leitlinie folgende Thesen auf:
- Körperliche Aktivität und Verhaltensanpassung sind die Basis aller Therapiemaßnahmen: „Patienten sollen aufgefordert werden, körperliche Aktivitäten soweit wie möglich beizubehalten.“ Der Einsatz kognitiver Verhaltenstherapien wird bei Vorliegen psychosozialer Risikofaktoren unbedingt empfohlen.
- Keine Therapie bei akuten Beschwerden: Bewegungstherapie wird erst für subakute und chronische nicht-spezifische Kreuzschmerzen empfohlen, nicht aber bei akuten Beschwerden.
- Kein Goldstandard in der Therapie unspezifischer Rückenschmerzen: Aus den aktuellen Studien sei keine spezielle Bewegungstherapie als Goldstandard abzuleiten. Entscheidend für den Erfolg seien daher die Präferenzen der Betroffenen, deren Alltagsumstände, ihre Fitness sowie die Anleitung durch qualifizierte Therapeuten.
- Sport ist kein Ersatz für therapeutische Interventionen: Für Patienten mit subakuten und chronischen Beschwerden empfiehlt die Leitlinie Rehabilitations- bzw. Funktionssport im Anschluss oder als Ergänzung physiotherapeutischer Anwendungen. Dies solle die Nachhaltigkeit der Interventionen verbessern.
- Entspannungsmaßnahmen bei chronischen Schmerzzuständen: „Progressive Muskelrelaxation“ sei erst bei chronischen Schmerzzuständen sinnvoll.
- Ergotherapie nicht als alleinige Therapie empfohlen: Bei akuten Kreuzschmerzen soll es keine Ergotherapie geben. Sie wird auch im Bereich der chronischen Beschwerden nur im Rahmen multimodaler Behandlungsprogramme empfohlen.
- Keine Therapien empfohlen, deren Evidenz nicht belegt werden konnte: Kinesio-Taping gilt bei unspezifischen Kreuzschmerzen der mitwirkenden Experten zufolge als wirkungslos. Daher sollten Therapeuten es in diesem Fall nicht anwenden. Gleiches gilt für TENS (Transkutane elektrische Nervenstimulation), Interferenzströme, Ultraschall, Lasertherapie, Magnetfeldtherapie, Kurzwellendiathermie und Traktionsbehandlungen mit Gerät.
- Keine explizite Empfehlung für Manuelle Therapie: Therapeuten können die Schmerzen mit Manueller Therapie behandeln. Eine explizite Empfehlung gibt es aber nicht, da sie im Vergleich zu anderen Therapieformen nicht signifikant zur Verbesserung der Schmerzen beitrüge.
- Kein signifikanter Nutzen für Massagen bei akuten Beschwerden gefunden: Bei akuten Beschwerden solle Massage gar nicht angewendet werden, da sie laut Studienlage ohne signifikanten Nutzen sei.
- Rückenschule vor allem im berufsbezogenen Setting und in multimodalen Behandlungsprogrammen effektiv: Laut Leitlinie könnte eine Rückenschule, die auf einem biopsychosozialen Ansatz basiert, bei länger andauerndem unspezifischem Rückenschmerz angewendet werden. „Insgesamt scheint die Rückenschule vor allem in einem berufsbezogenen Setting effektiver zu sein.“ „Im Rahmen von multimodalen Behandlungsprogrammen kann eine Rückenschule nach biopsychosozialem Ansatz, die beratende und bewegungsfördernde Aspekte beinhaltet, zusätzlich zu verhaltens-, ergo- und physiotherapeutischen Maßnahmen empfohlen werden.“
- Kein Einsatz von Kältetherapie: Die Leitlinie spricht sich gegen Kältetherapie aus – Wärmetherapie wird nur im Rahmen des Selbstmanagements empfohlen. Anmerkung: Die Leitlinie geht hauptsächlich auf die Wirkung von Wärmepflastern ein. Therapeutische Wärmeanwendungen werden nicht beschrieben. Generell erfolge die positive Wirkung der Wärme aber in Kombination mit Bewegung.
Empfehlungen der Leitlinie in Bezug auf den Heilmittel-Katalog
Die meisten Punkte der NVL zielen darauf ab, dass die Patienten ihr Verhalten und ihre Lebensweise anpassen. Ausdrücklich werden immer wieder Bewegungsprogramme und in den Alltag integrierte Bewegung empfohlen. Die Leitlinie setzt entsprechend vor allem auch auf Primär- und Tertiärprävention, lässt aber dennoch genügend Möglichkeiten für die Verordnung von Heilmitteln. Sie sieht Heilmitteltherapie allerdings nicht als die Pauschallösung zur Therapie des nicht-spezifischen Kreuzschmerzes. Therapie wird dann als sinnvoll empfohlen, wenn der psychosoziale Kontext in der Therapie berücksichtigt wird. Da Heilmittelerbringer im Rahmen Ihrer Therapie generell auch großen Wert auf Aufklärung und Bewegungsübungen für Heimübungen legen, ist die Verordnung von Heilmitteln in diesem Bereich hcoh relevant und sinnvoll.
Allerdings empfiehlt die Leitlinie beim unspezifischen Kreuzschmerz auf Therapien zu verzichten, deren Evidenz nicht belegt ist. Das wiederum entspricht auch den Vorgaben des Heilmittel-Katalogs, der Therapieformen mit fehlendem Wirksamkeitsnachweis zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung ausschließt (beispielsweise Magnetfeldtherapie und Akupunktmassage).
Leitlinie in der Praxis nutzen, Patienten aufklären
Sie können die Empfehlungen der Leitlinie über die Heilmitteltherapie hinaus nutzen, um Ihre Patienten über die verschiedenen Möglichkeiten aufzuklären, chronische Kreuzschmerzen zu behandeln oder ihnen vorzubeugen. Bieten Sie ihnen Beratungen, Coachings und therapeutisch angeleitete Sportkurse an – als Selbstzahlerleistungen.
Weiterhin verweist die Leitlinie auf arbeitsplatzbezogene Belastungen. Auch im Bereich der Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz können Therapeuten ihren Patienten oder Unternehmen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Entwickeln Sie verschiedene Angebote und Konzepte, von der Beratung zu ergonomischen Arbeitsplätzen über die Analyse der Arbeitsbedingungen sowie Coachings der Mitarbeiter bis hin zu speziellen Rückenkursen in den Räumen der Firma oder in Ihrer Praxis.
Neue Leitlinie wissenschaftlich fundiert
An der Ausarbeitung der aktualisierten Nationalen VersorgungsLeitlinie (NVL) zum nicht-spezifischen Kreuzschmerz wirkten Experten aus 28 Fachgesellschaften mit. Sie fasst die neuesten Forschungsergebnisse zur Versorgung von Patienten mit Kreuzschmerzen zusammen. Die wichtigsten Empfehlungen gegenüber der vorigen Auflage sind unter anderem eine zurückhaltende Diagnostik: Ändert sich das klinische Beschwerdebild der Patienten nicht, ist beispielsweise keine erneute Bildgebung nötig. Weiterhin stellt die NVL die Rolle von psychosozialen und arbeitsplatzbezogenen Belastungen in den Vordergrund, die verantwortlich dafür sein können, dass Kreuzschmerzen entstehen und chronisch werden.
Was bedeuten die Empfehlungen der Leitlinie?
Die Leitlinie arbeitet mit Negativ- und Positivempfehlungen. Eine starke Empfehlung wird in der NVL folgendermaßen formuliert: „soll (nicht)“. Eine Empfehlung wird mit „sollte (nicht)“ ausgedrückt. Mit „kann“ wird eine offene Empfehlung ausgesprochen. „Die Vergabe der Empfehlungsgrade berücksichtigt dabei neben der zugrunde liegenden Evidenz und der Evidenzqualität z. B. ethische Verpflichtungen, klinische Relevanz der Effektivitätsmaße der Studien, Anwendbarkeit der Studienergebnisse auf die Patientenzielgruppe, Patientenpräferenzen und die Umsetzbarkeit im ärztlichen Alltag.“ Im Fall von widersprüchlicher und/oder unzureichender Evidenzlage wurde im Sinne einer Nutzen-Schaden-Abwägung abgewertet. Das heißt, konnte die Wirksamkeit einer Intervention nicht belegt werden, wurde eine starke Negativ-Empfehlung ausgesprochen, auch wenn durch kein Schaden belegt werden konnte.