Gipfel der verpassten Chancen

„Diskutieren Sie mit …“ hatte der „Spitzenverband der Heilmittelverbände“ (SHV) seine Einladung zum zweiten Therapiegipfel nach Berlin überschrieben. Und rund 500 Teilnehmer, davon viele Verbandsfunktionäre, waren gekommen, um Bundesgesundheitsminister Jens Spahn anzuhören und mit dem SHV-Vorstand und „verantwortlichen Gesundheitspolitikern und kompetenten Fachleuten“ zu diskutieren. Das Format des Therapiegipfels hat der SHV im vergangenen Jahr erfunden, um Jens Spahn die Möglichkeit zu geben, sein damaliges Eckpunktepapier zu erläutern, und um den Anspruch des SHV auf die Führungsrolle bei der Vertretung der Interessen der Heilmittelerbringer zu untermauern. Insofern waren die Erwartungen bei den Teilnehmern hoch, Jens Spahn hatte seine Teilnahme am Therapiegipfel erneut zugesagt und das Programm war um „thematische Diskussionsrunden“ erweitert worden. Alles gute Voraussetzungen für den SHV, sein Selbstverständnis „Wir bewegen alle zu handeln“ zu den gesetzten Themen Akademisierung, Digitalisierung, Direktzugang und Vergütung umzusetzen. Doch dann fand weder eine Diskussion statt, noch entstand Handlungsdruck. Stattdessen blieb man unter sich, ging freundlich miteinander um, vermied inhaltliche Diskussionen und strittige Themen wurden gar nicht erst angesprochen. Die Begrüßung des Ministers durch Ute Repschläger, Vorsitzende des SHV, war symptomatisch für die gesamte Veranstaltung. Ja, es sei schon einiges geschafft, erläuterte Repschläger, es gebe jedoch noch immer großen Handlungsbedarf. Und man freue sich, dass der Minister wieder da sei, und man sei gespannt darauf, was er in diesem Jahr mitgebracht habe. Statt konkreten Ansagen oder einem Forderungskatalog an das Ministerium hörten die Teilnehmer allgemeine und freundlich formulierte Überlegungen zu Direktzugang und Akademisierung. Diese Vorlage nutze der Politprofi Spahn und spielte den Ball zurück. Seine Gesetzesinitiative habe gezeigt, dass Politik etwas bewegen könne, und nun seien die Heilmittelverbände in der Umsetzungsverantwortung: „Jetzt ist es ihre Aufgabe!“ Spahn räumte ein, dass Kassenverhandlungen für Therapeuten nicht immer einfach seien, ein Grund mehr, sich erst einmal auf die Rahmenbedingungen für Blankoverordnungen zu konzentrieren. Modellvorhaben für den Direktzugang würden ja noch mehr Arbeit für die Heilmittelverbände bedeuten, und es sei „ja für Sie gerade nicht nix zu tun“, so Spahn an die SHV-Vorstandsmitglieder auf dem Podium. Zum Abschluss gab er der Akademisierung eine klare Absage. Eine Teilakademisierung zur Ergänzung der Fachschulausbildung könne man verantworten, eine Vollakademisierung wäre aus seiner Sicht nicht zielführend: „Wenn Sie es anders haben wollen, müssen Sie auf den nächsten Minister warten.“ Spahns Ansagen boten mehr als genug Material für eine kontroverse Diskussion, in die die SHV aber gar nicht erst einstieg. Stattdessen folgte das obligatorische Frage- und Antwortspiel, das man von „Diskussionen“ mit Politikern kennt. Es gab Nachfragen, z. B. zur Ausbildungsreform (ist auf dem Weg), zur Situation der Schulen bei uneinheitlich geregelter Schulgeldfreiheit (müssen Sie Geduld haben), zum Direktzugang für Selbstzahler (bin ich grundsätzlich offen) und zur Abschaffung des Zuzahlungsinkassos (werde ich gern prüfen). Die Frage nach einer Therapeutenkammer müsse man auf Landesebene klären, so Spahn auf Nachfrage, grundsätzlich würde sich die Politik dem Wunsch nach Selbstverwaltung nicht entgegenstellen. Man müsse sich unter Therapeuten nur einig sein. Quintessenz des Spahnauftritts: Die Zuhörer haben dem Minister deutlich mehr Zusagen abgerungen als der SHV. Auch als Spahn zum nächsten Termin verschwunden war, entstand keine wirkliche Diskussion. Die Zuhörer durften weiter Fragen stellen und die Vorstandsmitglieder des SHV antworteten in der Logik politischer Statements: Viele Worte, ohne konkret zu werden. Darum blieben hier deutliche Informationslücken. Es fehlten z. B. Details zur geplanten Ausbildungsreform, zur Entwicklung der Gehaltsstrukturen in den Praxen und zur vom SHV geforderten Teilnahme der Heilmittelpraxen an der Telematikinfrastruktur. Weder in der Podiumsdiskussion noch auf den zuvor an die Presse verteilten Faktenblättern war über solche Punkte Substantielles zu erfahren. Tenor der Ausführungen des SHV: Habt Vertrauen in uns, wir wissen schon, wie‘s geht. Die anwesende Krankenkassenvertreterin, Frau Elsner (vdek), gratulierte dem SHV zum großartigen Lobbyerfolg und lieferte damit eine gute Vorlage für kritische Nachfragen, zum Beispiel, wie die Krankenkassen in Zukunft ihren Teil der Verantwortung für den aktuellen Fachkräftemangel übernehmen wollen. Stattdessen ein winziger Zwischenruf und ein Dankeschön an Frau Elsner für das Lob. Der Vertreter der Bundesärztekammer, Herr Bodendiek, warnte deutlich: Der Direktzugang führe zu erheblichen Haftungsrisiken für Therapeuten. Bodendiek untermauerte diese Aussage mit einem Beispiel, das schon vor zehn Jahren veraltet war und eine gute Gelegenheit gewesen wäre, den ärztlichen Kollegen argumentativ unter Beschuss zu nehmen. Doch eine Diskussion, in der die Scheinheiligkeit der Argumentation („Patientenwohl“) und die wahren Motive (vermutlich Geld und Hierarchie) offengelegt wurden, fand nicht statt. Eine Frage aus dem Publikum nach dem Einfluss von Investoren in der Heilmittelbranche wurde von Dr. Kühne (MdB) mit dem Hinweis beantwortet, private Investoren seien im Gesundheitswesen willkommen. Da wäre die Nachfrage nach diesbezüglichen Restriktionen in anderen Bereichen des Gesundheitswesens fällig gewesen: Warum gibt es das Fremdbesitzverbot für Apotheken, wieso werden die Besitzverhältnisse bei MVZ für Nichtärzte eingeschränkt etc. Stattdessen keine Nachfragen, keine Diskussion. Was diesem zweiten Therapiegipfel gefehlt hat, war Expertenwissen und verschiedene Standpunkte. Auf dem Podium saßen Frau Mueller (MdB) und Dr. Kühne (MdB) für die Regierungskoalition, aber Vertreter von Oppositionsparteien aus dem Bundestag fehlten. Und auch Fachleute fehlten, sei es zum Thema Digitalisierung (ein Experte für Telematikinfrastruktur), zur Akademisierung (jemand, der Akademiker ausbildet und aus der Praxis berichten könnte), zur Vergütungserhöhung (ein Experte für Wirtschaft und Tarife) und zum Thema Blankoverordnung/Direktzugang (jemand, der aus Sicht der Versorgungsforschung argumentieren kann). Stattdessen saßen fünf Vertreter des SHV auf dem Podium, die sich natürlich nicht widersprechen durften - denkbar schlechte Voraussetzungen für eine lebhafte Diskussion. Gemessen an den vom SHV geschürten Erwartungen war der zweite Therapiegipfel eine Enttäuschung. Die angekündigten Diskussionen fanden kaum statt, Forderungen sind im Vergleich zum Vorjahr nicht konkreter geworden und eine überzeugende Strategie zur echten Neugestaltung der Therapiebranche ist nicht zu erkennen. Dieser zweite Therapiegipfel war nicht einmal eine gute Werbung für die Verbände, die den SHV tragen. Wenn der SHV die maßgebliche Instanz für Lobbyarbeit der Heilmittelbranche ist, dann haben die Heilmittelerbringer ein Problem.