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Behandeln lassen - Themenschwerpunkt im Magazin 10 2019

Lasst uns endlich (be)handeln

Jetzt durch die Tür gehen, die das TSVG geöffnet hat
Therapeuten, die ihre Patienten medizinisch sinnvoll behandeln wollen, müssen Tag für Tag überlegen, wie sie das Korsett an unsinnigen Verordnungsregeln umgehen können. Die GKV-Bürokratie und uninformierte Ärzte begrenzen die Möglichkeiten, Patienten angemessen zu versorgen. Höchste Zeit, der Heilmitteltherapie den Raum zu geben, den sie braucht, um zu wirken. Viele tausend Therapeuten fordern: „Lasst uns endlich behandeln!“ Wie gut, dass das TSVG den Heilmittelverbänden die Möglichkeit gibt, diesen Freiraum jetzt einzufordern.
Lasst uns endlich (be)handeln
© iStock: Customdesigner

Mehr als acht Milliarden Euro wird die GKV 2019 für Physio-, Ergo-, Ernährungstherapie, Logopädie und Podologie bezahlen. Ärgerlich nur, dass über die Hälfte dieses Betrages für Therapie ausgegeben werden wird, die nicht so erbracht werden kann, wie das medizinisch sinnvoll und in Leitlinien dokumentiert ist.

Die Art und Dosierung von Therapie, also die Auswahl der Leistung, die Frequenz, Intensität, Dauer und Kombination von Leistungen wird den verordnenden Ärzten vom Heilmittelkatalog vorgeschrieben. Ärgerlich nur, dass diese Vorgaben nicht gut mit medizinischen Leitlinien abgeglichen sind und von Ärzten angewendet werden müssen, die mit dem Umgang der Heilmittelrichtlinie einfach nicht vertraut sind. Wie frustrierend und einschränkend Therapie zulasten der GKV erbracht werden muss, kann man exemplarisch an den Statements der Kollegen in dieser Ausgabe nachlesen.

3 Ursachen für mangelhafte Versorgung

Seit Jahren behindern die gesetzlichen und vertraglichen Rahmenbedingungen Therapeuten bei ihrer Arbeit. Die medizinisch notwendige Versorgung der Patienten ist seit langem nachhaltig gestört. Die Ursachen dieses Problems sind bekannt:

1. Realitätsfremde Versorgungsverträge:

Die kleinteiligen Regelungen der Rahmenverträge zwischen GKV und Therapeuten minimieren den Spielraum für leitliniengerechte Therapie. Unrealistische Zeittakte, Verbot von medizinisch sinnvollen Mehrfachbehandlungen an einem Tag, starre Vorgaben und eine Vielzahl von weiteren Vorschriften sorgen dafür, dass Therapeuten, die effektive Therapie durchführen, fast immer Gefahr laufen, mit Retaxationen durch die Kassen belastet zu werden. Anstatt die Voraussetzungen für Therapieerfolg zu definieren, werden Praxisinhaber kriminalisiert. Sicherheitsbedürfnisse der Kassen hinsichtlich der Abrechnung sind wichtiger als Therapieerfolg!

Beispiel Versorgungsverträge:

Wenn ein Therapeut aus medizinischen Gründen die Intensität bzw. die Häufigkeit der Therapie ändert, weil die Belastungsfähigkeit des Patienten das erforderlich macht, muss der Arzt das erlauben. Dabei hat der Arzt überhaupt keine Informationen darüber, was konkret in der Therapie gemacht wird, welche Belastung dies beim Patienten auslöst und wie der Patient auf die Belastung reagiert. Stimmt sich der Therapeut aber nicht mit dem Arzt ab, zum Beispiel weil der Arzt zum Zeitpunkt der Behandlung nicht erreichbar ist, und ändert trotzdem eigenverantwortlich die Intensität, muss er falsche Angaben bei der Abrechnung machen. Oder er belässt die Intensität bei den Vorgaben des Arztes und behandelt falsch.

2. Fremdbestimmte Versorgungskonzepte:

Der Heilmittelkatalog legt den Umfang und die Details der Leistungserbringung zulasten der GKV fest. Der Inhalt des Heilmittelkatalogs wird von fachfremden Funktionären (Kassenjuristen und Ärztefunktionären) festgelegt, der Versuch diese Vorgaben durch Leitlinien zu verifizieren, scheitert regelmäßig. Therapeutisches Know-how bei der Erstellung des Heilmittelkatalogs fehlt. Hier ist die Hierarchie wichtiger als der Therapieerfolg!

Beispiel Versorgungskonzepte:

In der aktuellen S2k-Leitlinie „Diagnostik und Therapie der Lymphödeme“ vom Mai 2017 wird festgelegt, dass in bestimmten Stadien der Erkrankung die manuelle Lymphdrainage zweimal täglich angewandt werden soll. Tatsache ist, dass die Heilmittelrichtlinie eine derartige Versorgung nicht vorsieht. Das führt dazu, dass Therapeuten die leitlinienkonform behandeln, Retaxationen befürchten müssen und zusätzlich Diskussionen mit Ärzten zum Thema Wirtschaftlichkeit führen müssen. Die Alternative: Sie behandeln Patienten eben nicht leitliniengerecht.

3. Uninformierte Verordner:

Ärzte lernen während ihrer Ausbildung fast nichts über Art und Wirkung von Heilmitteltherapie. Und niedergelassene Ärzte haben kaum Interesse daran, die vielen Verordnungsrichtlinien des G-BA wirklich nachzuvollziehen. Die meisten Ärzte eint eine tiefe Unkenntnis über Sinn, Zweck und Wirkung sowie formal korrekter Verordnung von Heilmitteln. Gegen derartiges Unwissen hilft auch die Verordnungssoftware der Ärzte nicht. Den Anschein aufrechtzuerhalten, sie wüssten, was sie tun, ist vielen Ärzten wichtiger als der Therapieerfolg!

Beispiel Verordner:

„Ich kann nicht mehr verordnen, mein Budget ist in diesem Jahr/Quartal aufgebraucht.“ Diesen Satz müssen sich hunderttausende Patienten Woche für Woche anhören, wenn sie eine Heilmitteltherapie haben möchten. Und gleichzeitig erleben Therapeuten, dass Patienten, die austherapiert sind, weiterhin Verordnungen erhalten – manchmal sogar gegen die Empfehlung des Therapeuten im Therapiebericht. In jeder Praxis gibt es Frust, weil das Verordnungsverhalten der Ärzte wenig von der medizinischen Indikation gesteuert wird. So werden Patienten, die keine Therapie benötigen, gegen die Empfehlung von Therapeuten behandelt, während therapiebedürftige Patienten leer ausgehen.

Im Ergebnis werden Patienten nicht so behandelt, wie es medizinisch sinnvoll wäre, und Therapeuten haften mit ihrem persönlichen Einkommen dafür, wenn sie Therapie so anwenden, wie sie es gelernt haben. Erfreulicherweise hat der Gesetzgeber mit dem TSVG jetzt viel Gestaltungsspielraum an die maßgeblichen Verbände der Heilmittelbranche delegiert.

Blankoverordnung für alle Indikation

Paragraf 125a SGB V eröffnet den Heilmittelverbänden die Möglichkeit, die Blankoverordnung umzusetzen. Die Blankoverordnung löst genau die oben genannten Probleme:

  • Es gibt keine Beschränkung hinsichtlich der Indikation für Blankoverordnungen, d. h. alle Indikation können für die Blankoverordnung vereinbart werden.
  • Es kann vereinbart werden, dass die Leistungserbringung von den Vorgaben der Heilmittel-Richtlinie abweichen kann.
  • Und es können Veränderungen an der Leistungsdauer vereinbart werden.

Würde man also die Blankoverordnung für alle Indikation des Heilmittelkatalogs vereinbaren, dann wären viele Restriktionen der heutigen Heilmitteltherapie abgeschafft. Die Ärzte würden nur noch die Diagnose und Indikation zur Heilmitteltherapie festlegen, alle weiteren Details würden von Therapeuten geregelt. Damit würde gleichzeitig ein Großteil der von der heutigen „Prüfpflicht“ erfassten Verordnungsdetails sofort ersatzlos gestrichen. Therapie könnte so durchgeführt werden, wie sie in medizinischen Leitlinien beschrieben ist und wie es für den individuellen Patienten angemessen ist. Und die Diskussion mit Ärzten über die Sinnhaftigkeit und Wirtschaftlichkeit von Heilmitteltherapie wäre deutlich eingeschränkt.

Mengenausweitungen gemeinsam beobachten

Der Gesetzgeber hat im TSVG festgelegt, dass die Einführung von Blankoverordnungen mit Maßnahmen begleitet werden muss, die eine unverhältnismäßige Mengenausweitung der Anzahl der Behandlungseinheiten je Versicherten verhindern sollen. Es bleibt das Geheimnis des Gesetzgebers, woher er weiß, dass die Einführung von Blankoverordnungen automatisch zu Mengenausweitungen führen würde. Bisherige Modellversuche liefern dafür keinen Beleg.

Trotzdem muss man sich mit dieser Angst auseinandersetzen und vertraglich mit den Krankenkassen vereinbaren, wie das Problem gelöst werden kann. Dabei geht es nicht darum, Budgets festzulegen, sondern zunächst zu erarbeiten, wie man das Thema wirtschaftliche Verantwortung auf die Schultern der Therapeuten übertragen kann. Denn mit dem ärztlichen Bereich vergleichbare Strukturen, die solche Budgets vereinbaren könnten, gibt es nicht. Deswegen müssen verschiedene Modelle der Wirtschaftlichkeitskontrolle erprobt werden, zum Beispiel indem in unterschiedlichen Bundesländern verschiedene Modelle evaluiert werden.

Also, lasst uns endlich behandeln!

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Gesetzgeber mit dem Paragrafen 125a SGB V die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass Therapeuten so behandeln können, wie es medizinisch sinnvoll ist. Damit werden gleichzeitig die meisten Probleme rund um Retaxationen gelöst. Der Preis für mehr Freiheit in der Therapie ist allerdings die Übernahme der Wirtschaftlichkeitsverantwortung. Hier kommt es jetzt darauf an, nicht die falschen Instrumente der Ärzte zu übernehmen, sondern über Modellvorhaben zu evaluieren, mit welchen Modellen die Wirtschaftlichkeit der Therapie nachgewiesen werden kann ohne den gerade gewonnenen Freiraum zur Therapie zu begrenzen.

§ 125a SGB V – Heilmittelversorgung mit erweiterter Versorgungsverantwortung

(1) Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen schließt mit bindender Wirkung für die Krankenkassen mit den für die Wahrnehmung der Interessen der Heilmittelerbringer maßgeblichen Spitzenorganisationen auf Bundesebene für jeden Heilmittelbereich einen Vertrag über die Heilmittelversorgung mit erweiterter Versorgungsverantwortung. Die für den jeweiligen Heilmittelbereich zuständigen maßgeblichen Spitzenorganisationen haben den Vertrag gemeinsam zu schließen. Die Verträge sind bis zum 15. November 2020 zu schließen. Gegenstand der Verträge ist eine Versorgungsform, bei der die Heilmittelerbringer aufgrund einer durch einen Vertragsarzt festgestellten Diagnose und der Indikation für eine Heilmittelbehandlung selbst über die Auswahl und die Dauer der Therapie sowie die Frequenz der Behandlungseinheiten bestimmen können. Die Auswahl der Therapie darf dabei nur im Rahmen der in der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 für die jeweilige Diagnosegruppe vorgegebenen verordnungsfähigen Heilmittel erfolgen. Im Übrigen sind Abweichungen von dieser Richtlinie nur in dem von den Vertragspartnern nach Absatz 2 Nummer 2 vereinbarten Umfang möglich.

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