„Man sollte keine Angst vor dem Austausch haben“

Wenn akademisch ausgebildete Therapeuten neu in der Praxis anfangen, treffen mitunter Welten aufeinander. Auf der einen Seite Wissenschaft und Theorie, auf der anderen Seite jahrelange Berufserfahrung und eine Ausbildung an der Fachschule, die schon viele Jahre oder Jahrzehnte zurückliegt. Mancher Praxisinhaber fürchtet, dass das zu Problemen führt. Dabei können beide Seiten viel voneinander lernen. Jacqueline Bormann, Dozentin für Physiotherapie an der EU|FH Hochschule für Gesundheit|Soziales|Pädagogik, erklärt im Gespräch, wie Praxen von evidence-based Practice profitieren können. Frau Bormann, eine Frage, die viele Praxisinhaber umtreibt: Wenn ich einen akademisch ausgebildeten Therapeuten einstelle, muss ich Angst davor haben, dass der ständig mit mir diskutieren will? BORMANN: Angst muss man davor nicht haben. Aber Interesse daran, etwas Neues zu lernen wäre gut. So wie der Therapeut, der frisch von der Hochschule kommt, Interesse daran hat, ganz tief in die Praxis einzutauchen und ganz viel von Kollegen zu lernen, die vielleicht keine Studien lesen, aber viele Jahre Berufserfahrung haben. Erfahrene Therapeuten haben viele Fallbeispiele mit Patienten für sich gelöst, ohne auf die Evidenz anderer Therapeuten zu schauen. Das ging vielleicht sehr gut, vielleicht hat es aber auch viel länger gedauert, als es hätte dauern müssen, wenn man Zugang zu Studien gehabt hätte. Man sollte also keine Angst vor dem Austausch haben, sondern es als Win-Win-Situation für alle drei Seiten betrachten: den Patienten, den erfahrenen Praxisinhaber und den neuen Therapeuten. Wir sprechen hier ja über Therapeuten, die an der Hochschule zum Thema „evidence-based Practice“ ausbildet werden. Was bedeutet das? BORMANN: Evidence-based Practice heißt, dass man sich auf die aktuelle Studienlage bezieht, und dass man die Fähigkeit hat, die vielen verschiedenen Stimmen, die einem Lösungen verkaufen wollen, einzuordnen und zu bewerten. So kann man unterscheiden, ob es sich um eine fixe Idee handelt, oder ob sich eine Vorgehensweise auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützt. Man weiß dann, ob man darauf vertrauen kann und eine neue Methode vielleicht in die eigene Praxis integriert. Wie lässt sich denn evidence-based Practice in die Praxis integrieren – bei 20 Minuten Behandlungszeit, in der eigentlich auch noch Vor- und Nachbereitung stattfinden sollen? BORMANN: Natürlich ist evidence-based Practice bei knappen zeitlichen Ressourcen nicht leicht. Dennoch ist es wichtig, um für den Patienten die bestmögliche Behandlung auszuwählen. Denn wenn man sich anhand von Studien anschauen kann, wie es sich bei anderen Patienten oder Patientengruppen mit ähnlichen Problemen verhalten hat, kann man als Therapeut die Patienten auch viel besser aufklären. Das ist wichtig, um sie dazu zu befähigen, auch selbst Verantwortung zu übernehmen und sich selbst zu helfen. Nicht jeder Therapeut kann erstmal 30 Jahre in der Praxis seine eigenen Erfahrungen sammeln, um für sich selbst herauszufinden, wie effektiv die jeweiligen Behandlungsmethoden sind. Darum haben eben Studien und Evidenz eine große Bedeutung. Für viele Praxen bedeutet das auch ein Stück weit eine Kulturveränderung. Was kann ich als Chef tun, um diese Entwicklung zu unterstützen? BORMANN: Ich könnte meinem akademisch ausgebildeten Therapeuten ein paar Stunden innerhalb seiner Arbeitszeit dafür zur Verfügung stellen, dass er beispielsweise jeden Monat ein neues Thema mittels einer Infografik aufbereitet und die Kollegen auf diese Art informiert. Oder man könnte bei Fortbildungen danach schauen, auch an solchen zum Thema evidenzbasierte Therapie teilzunehmen. Darin lernen Therapeuten, die bisher noch wenig Erfahrung damit haben, wo sie Studien finden und wie sie diese richtig lesen. Wir wissen ja, es ist schlau, studienbasiert zu argumentieren, und nicht nur nebeneinander her zu arbeiten, sondern sich auch auszutauschen. Darum würde eine solche Kulturveränderung sicher auch die Arbeitszufriedenheit der Therapeuten steigern und sie bleiben der Praxis langfristig erhalten. Kann ich denn, wenn ich evidenzbasiert arbeite, besser erkennen, ob das, was ich tue, Sinn ergibt? BORMANN: Wenn ich reflektiert bin, ja. Man kann sicher früher die Reißleine ziehen, wenn man merkt, dass ein Patient bei der Therapie die in der Literatur beschriebenen Meilensteine nicht erreicht. So lässt sich früher gegensteuern, um eben doch noch zu einem guten Ergebnis zu kommen. Die eigene Arbeit zu reflektieren und damit ein Stück weit auch infrage zu stellen, ist nicht immer angenehm. Nicht jeder möchte das. Wie kann ich meinen Mitarbeitern dabei den Rücken stärken und mich auch selbst trauen, Reflektion zuzulassen? BORMANN: Man kann mit gutem Beispiel vorangehen: Auch als akademisch ausgebildeter Therapeut ist nicht jede meiner Behandlungen perfekt. Dann kann ich auf erfahrene Kollegen zugehen und beispielsweise sagen, dass ich das, was ich gelesen habe, in der Behandlung nicht so richtig umsetzen kann, und um Hilfe bitten. Die erfahrenen Kollegen berichten dann aus ihrem Erfahrungsschatz und helfen weiter. Wenn sich das etabliert hat, kann ich dann auch Hilfe anbieten und beispielsweise sagen: Ich habe hier dieses Paper gelesen und es in der Behandlung ausprobiert. Das hat super funktioniert, hast du davon schon mal gehört? Ich muss also keine Angst davor haben, mir einen akademisch ausgebildeten Therapeuten in die Praxis zu holen, sondern wenn ich es richtig anstelle, kann das auch der Anstoß zu einem Kulturwandel in meiner Praxis sein. BORMANN: Ja, genau. Ein schönes Fazit. Frau Bormann, vielen Dank für das Gespräch. [Das Gespräch führte Ralf Buchner.] Außerdem interessant: up_dashboard Berufspolitik Baden-Württemberg: Akademisierungsquote bei den Therapieberufen niedriger als geplant