„Ich wollte weg vom Spielfeldrand und rauf auf den Platz“

Silvia Gosewinkel sitzt dort, wo Entscheidungen getroffen werden. Sie ist seit Juni 2022 Abgeordnete im nordrhein-westfälischen Landtag. Dort beschäftigt sie sich hauptsächlich mit der Schulpolitik und dem Thema Inklusion. Natürlich hat sie bei ihrer Arbeit auch immer die logopädische Brille auf. Im Gespräch erzählt sie uns, wie sie in die Politik gekommen ist und warum sie eine Akademisierung der Therapieberufe befürwortet. Frau Gosewinkel, Sie haben sowohl in einer Praxis gearbeitet, als auch in der Hochschullehre. Was war Ihre Intention, in die Politik zu gehen und sich für ein Landtagsmandat zu bewerben? Es gab für mich verschiedene Aha-Momente während meiner Berufstätigkeit als Logopädin. Ich habe zum Beispiel eine Zeit lang vormittags in einer Brennpunkt-Kita gearbeitet und nachmittags war ich in einem gutbürgerlichen Viertel in einer Praxis. Ich habe so hautnah mitbekommen, dass Sprachentwicklungsstörungen überall auftreten, aber der Umgang auch von den Ressourcen im Elternhaus abhängt. Das hat mich beschäftigt. Es reicht eben nicht, die Therapiemethoden zu verbessern, wenn die Strukturen nicht stimmen. Es gibt einfach gesellschaftliche Verschiebungen. Als ich in Rostock lebte, war die Landtagswahl, bei der die AfD aus dem Nichts 20 Prozent bekam. Das merkte man auch in alltäglichen Gesprächen. Das hat mich so nachdenklich gemacht, dass ich dachte: Ich möchte weg vom Spielfeldrand und rauf auf den Platz. Ich möchte mich selber einbringen, wenn es darum geht, wie politische Entscheidungen zum einen getroffen, aber auch vermittelt und kommuniziert werden. Wie sind Sie dann vorgegangen? Sind Sie erst einmal in die Partei eingetreten? Wie ist da der Ablauf? Als erstes sollte man sich mit den politischen Werten der Parteien auseinandersetzen. Das habe ich anhand mehrerer Wahlkämpfe gemacht, bis ich mir sicher war, dass ich mit der SPD die größte Schnittmenge bei den Themen habe, die mir wichtig sind. Als ich dann 2017 in meine Heimat nach NRW zurückgezogen bin, habe ich mich erst einmal kommunalpolitisch im Ortsverein eingebracht. Seit 2020 bin ich direkt gewählte Ratsfrau und Schulausschussvorsitzende. Dort habe ich festgestellt, dass man kommunal vieles umsetzen kann, was einem vom Land und vom Bund vorgegeben wird. Aber ich wollte dann dahin, wo Schulpolitik gestaltet wird, und das ist im Landtag. Gehören dazu dann auch die Berufsfachschulen? Nein, diese sind Teil der Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik. Aber natürlich verbindet man im Wahlkampf verschiedene Themen. Und wenn man dann als Abgeordnete in einer Fraktion ist, wird auch geguckt, wer bringt sich aus welcher Region in welchem Arbeitsbereich mit seinen Kompetenzen ein. Ich bin jetzt im Schulausschuss und im Integrationsausschuss, was für mich in Bezug auf die Sprachkompetenz bei Mehrsprachigkeit sehr wichtig ist. Ist es als junge Logopädin schwer in den Landtag zu kommen? Mussten Sie sich gegen festgefahrene Strukturen durchsetzen? Natürlich gab es auch andere Kandidaten. Wichtig ist, dass man sich einbringt und Engagement zeigt, sodass man innerparteilich Unterstützung erhält. Am Ende ist es dann ein demokratischer Prozess, bei dem man von der eigenen Partei als Kandidatin aufgestellt wird. Und dann folgt der Wahlkampf für den Landtag. Wie ist es, wenn plötzlich überall Plakate von einem hängen und man den Bürgerinnen und Bürgern Rede und Antwort stehen muss? Es ist erst einmal ungewohnt, wenn überall das eigene Gesicht zu sehen ist. Aber das Ziel ist ja, aufzufallen und Aufmerksamkeit zu erregen. Ich war aber auch nicht böse, dass alles nach dem Wahlkampf wieder abgehängt wurde. Dazu muss man sagen: Meine aktive Zeit und auch mein Wahlkampf waren geprägt von der Corona-Pandemie. Ich bin von meiner Persönlichkeit her gerne unter Menschen und gerne interaktiv und kommunikativ unterwegs. Als es dann losging mit meinem Wahlkampf gab es noch diverse Beschränkungen. Auch die ganze Planung fand hauptsächlich digital statt. Zum Frühjahr hin habe ich mich dann bei der Hochschule beurlauben lassen und hatte so viel Zeit für den Austausch im Wahlkreis, für die Themen vor Ort. Ich fand es großartig, endlich mit vielen Menschen in Kontakt zu kommen. Was mir sehr gefallen hat, war, dass ich so viele unterschiedliche Themen aufnehmen und mich damit beschäftigen durfte. Das vergrößert nun meinen „logopädischen Blick“. Wurden Sie direkt gewählt oder sind Sie über die Liste in den Landtag gezogen? Ich bin direkt gewählt worden. Ich hatte eines der besten Erststimmenergebnisse und das beste Zweistimmenergebnis meiner Partei in ganz NRW. Oh wow, ich gratuliere. Mir fällt gerade keine andere Logopädin im Land- oder Bundestag ein. Ich wünschte, es würde einen Zusammenschluss von ganz vielen Heilmittelerbringern geben. Hat denn Ihr Beruf im Wahlkampf eine Rolle gespielt? Ich habe im Wahlkampf gerne den Slogan genutzt: Ich möchte Eure starke Stimme sein. Das kann ich als Logopädin natürlich. Ebenso kann und möchte ich ein Sprachrohr für meine Wählerinnen und Wähler sein. Vertreten Sie dann auch im Landtag die Logopädinnen? Sind Sie auch deren Sprachrohr? Ich bin stellvertretend auch im Gesundheitsausschuss und bekomme dort die Themen natürlich mit. Im Schulausschuss übernehme ich beispielsweise den Bereich Inklusion. Dort kann ich auf meine Berufserfahrung zurückgreifen. Zum Beispiel wenn es um Verfahren für Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen in den Schulen für Förderverfahren geht. Ich habe schon immer meine logopädische Brille auf, wenn zum Beispiel in meinem Wahlkreis Praxen schließen und sich so die Versorgung der Patient:innen verschlechtert. Die Themen, die die Heilmittelerbringer betreffen, werden ja hauptsächlich auf Bundesebene entschieden und nicht auf Landesebene. Wenn Kolleg:innen sich nun bei Ihnen melden, um auf Probleme aufmerksam zu machen, können Sie dann überhaupt weiterhelfen? Natürlich können sich Kolleginnen und Kollegen gerne bei mir melden. Per Mail bin ich unter kontakt@silvia-gosewinkel.de erreichbar. Ich kann dann bei Bedarf weitervermitteln an Mitglieder aus der Fraktion der SPD im Bundestag. Das Bundesgesundheitsministerium hat im Sommer unter anderem an die Physiotherapieverbände eine Umfrage zur Zukunft der Berufe verschickt, in der auch die Frage aufkam: Wie viel Akademisierung brauchen wir eigentlich? Wie stehen Sie zum Thema Akademisierung? Ich bin für eine Vollakademisierung. Ich finde, man muss gucken: Welche Qualifizierung brauche ich für welche Tätigkeiten? In der Logopädie kann man nicht unterscheiden, das eine macht jetzt jemand mit Fachschulabschluss und das andere nur jemand mit Hochschulabschluss. Das sind alles gleichwertige Tätigkeiten und daher brauchen wir eine neue Aufstellung der Ausbildung, wie bei den Hebammen, bei denen es seit zwei Jahren ein neues Berufsgesetz gibt. Und dort funktioniert das auch. Ich habe mit einer Physiotherapeutin aus der Schweiz gesprochen. Dort hat man von heute auf morgen gesagt: Es müssen alle studieren. Dann war das so. Was brauchen die Therapeutinnen und Therapeuten hier, damit sie sich mit dem Thema Akademisierung wohler fühlen? Da müsste man schauen, woher die Angst kommt. Ich habe in den letzten fünf Jahren viele Praxissemester begleitet und die Studierenden waren sowohl in der Praxis bei akademisierten Logopäd:innen als auch bei examinierten. Da gab es viele gute Erfahrungen mit evidenzbasiertem Handeln und Reflektieren. Das ist eine Kompetenz, die man im Bachelor-Studium lernt. Und man lernt auch, wie man evidenzbasierte Therapie in der Praxis, an den Patientinnen und Patienten, umsetzt. Ich kann die Beweggründe einzelner Praxisinhaber nachvollziehen. Daher muss die Politik unbedingt das Thema Übergangsregelungen aufnehmen, so etwas wie Bestandschutz schaffen. Anders ist Akademisierung kaum umsetzbar. In Zeiten von Fachkräftemangel wird keiner auf die Idee kommen, Berufsverbote auszusprechen, nur weil der Berufsabschluss von vor 25 Jahren nicht mehr anerkannt wird. Aber: Wandel und das zukunftsfähige Aufstellen einer Berufsgruppe geht nun mal damit einher, dass man Berufsgesetze anpasst. Unsere Berufe haben sich doch auch verändert. In der Logopädie ist das Krankheitsbild Dysphagie, also Schluckstörungen, ja nicht mal im Berufsgesetz von 1980 enthalten. Also ein Schlusswort an die Therapeutinnen und Therapeuten: Seid offen und lasst Veränderungen zu. Frau Gosewinkel, vielen Dank für das Gespräch. Das Gespräch mit Silvia Gosewinkel führte Ralf Buchner. Außerdem interessant: Grünen-Politikerin für Vollakademisierung der Logopädie Lauterbach: Heilmitteltherapie ist eine eigene Wissenschaft