Typisch Therapeut: Immer für andere da sein, aber nie für sich selbst

„Ich wollte meine Probleme einfach nicht sehen, habe viel zu spät reagiert und es kam einfach sehr viel zusammen“, erzählt Modesta Kriebel, Physiotherapeutin und Praxisinhaberin aus Remchingen in Baden-Württemberg. Sie leidet seit Jahren an einer Fibromyalgie und Depressionen. Uns erzählt sie, wo sie Hilfe gefunden hat, und zeigt, wie sie es geschafft hat, wieder positiv in die Zukunft zu blicken. Seit etwa 15 Jahren hat Modesta Kriebel immer wieder mit Schmerzen zu tun. Am Anfang taten ihr vor allem ihre Gelenke weh. „Ich habe mich von Ärzten zu schnell abspeisen lassen“, sagt sie heute. Es hieß immer nur, dass man nichts sehen könne. „Und dann macht man halt immer weiter. Geht immer wieder arbeiten und sagt zu sich selbst: `Naja, andere haben auch Rückenschmerzen, nimm Dich nicht so wichtig, geht schon wieder weg`“, berichtet Modesta. Als Praxisinhaberin fühlt sie sich ihren Mitarbeiterinnen und Patient:innen gegenüber verpflichtet. Daher arbeitet sie trotz Beschwerden immer weiter. „Ich habe das lange ausgehalten, bis noch andere Dinge hinzukamen. Mein Vater wurde krank und dann wurde es sehr schwer“, erzählt sie. Ab diesem Moment merkt Modesta, dass sie es alles nicht mehr alleine hinbekommt. „Das war der Tropfen, der alles zum Überlaufen gebracht hat“, sagt sie. „Ich habe mir dann für meine Verhältnisse schnell einen Gesprächstherapeuten gesucht, der mich auch wirklich gut wieder aufgebaut hat. Das war Ende 2019. Wäre ich nicht dort gewesen, hätte ich das erste Corona-Jahr nicht gut überstanden.“ Allen helfen, aber sich selbst vergessen Zu ihren Schmerzen und der Erkrankung des Vaters kam dann ab März 2020 die ganze Praxisorganisation rund um die Corona-Pandemie. Da sie eine Praxis mit Neurologie-Schwerpunkt hat, lag ihr besonders die Sicherheit der Patienten am Herzen. Modesta organisierte und funktionierte. Plötzlich verstarb dann noch ihr Schwiegervater und ihre Schwiegermutter erlitt einen Schlaganfall. Die ganze Familie war in einer Schockstarre. „Ich war dann diejenige, die sich nicht nur in der Praxis, sondern nun auch noch in der Familie um alles gekümmert hat. Wieder habe ich funktioniert“, erklärt Modesta. Das Problem sei, sagt sie, dass man es irgendwie alles kommen sieht, aber nicht aus der Spirale herauskommt, weil man funktionieren muss und alle sich auf einen verlassen. Man hilft und vernachlässigt dabei die eigene Gesundheit und die eigene Psyche. „Das ist ja auch so ein Therapeuten-Ding: Wir wollen immer helfen und möchten, dass jeder unserer Patientinnen und Patienten gesund aus der Praxis geht – zu welchem Preis auch immer.“ Mit dem Zusammenbruch kam die Hilfe „Und dann kam bei mir selbst der große Knall und nichts ging mehr.“ Ihre Rezeptionskraft habe alles kommen sehen und ein ernstes Wort mit ihrer Chefin gesprochen. „Daraufhin habe ich zum Telefonhörer gegriffen und einen Aufenthalt in einer multimodalen Schmerzklinik organisiert.“ Das war Ende des Jahres 2021. Zu diesem Zeitpunkt kann Modesta vor lauter Erschöpfung kaum noch vom Sofa aufstehen. Als sie dann Anfang Januar 2022 einen Platz in der Schmerzklinik bekommt, ändert sich für sie alles. Die Gespräche mit den Ärzt:innen waren wie eine erste Therapie. „Das Aufnahmegespräch ging zwei Stunden. Die Ärztin saß da und einfach einmal nur mir zugehört. Das war für mich im ersten Moment so ungewohnt“, erzählt die Physiotherapeutin. „Sie hat auch ganz gezielt nach meinen Schmerzen gefragt. Das erste Mal hat sich jemand so richtig damit beschäftigt.“ Nach Jahren endlich eine Diagnose Die Ärztinnen und Ärzte in der Klinik waren sich dann ziemlich schnell sicher, dass Modesta unter einer Fibromyalgie leidet – und zwar schon seit Jahren. Diese Erkrankung geht häufig mit einer Hashimoto-Erkrankung und einer Depression oder depressiven Verstimmung einher. „Was ich bisher über Depressionen wusste, war, dass die Leute niedergeschlagen und von ihrer Grundtendenz trist sind. Das war mein Bild von einer Depression. Und trist bin ich einfach nicht. Ich habe bunte Haare, meist farbenfrohe Kleidung, ich bin trubelig, in Vereinen, im Verband aktiv, ich mache und tue.“ In der Schmerzklinik hat sie dann mehr über die vielseitigen Symptome von Depressionen bzw. einer depressiven Episode, wie ihre Diagnose benannt wurde, gelernt: Ihre chronischen Kopfschmerzen, die sie zu der Zeit durchgehend hatte, ergaben plötzlich Sinn. Gegessen hat sie nur, weil ihr Körper auf einmal anfing zu zittern. Sie hatte mit Schlaflosigkeit zu kämpfen, lag nächtelang wach. Auch Panik-Attacken hatte sie, die sie aber nie als solche empfunden hat. „Je mehr ich mit den Ärztinnen und Ärzten in der Klinik gesprochen habe, je tiefer sie gebohrt haben, desto klarer wurde mir, dass ich viel kranker war, als ich gedacht hatte.“ Ganzheitliche Therapie brachte Besserung Die Therapie in der Klinik war umfangreich. „Ich habe zum Beispiel einfach mal wieder eine ganz banale Massage bekommen“, erzählt Modesta. „Mein Gott hat das gut getan. Das war so ein Aha-Erlebnis. Dass Massagen nicht zur Standardversorgung von Schmerzpatienten gehört, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Ja, das löst die Ursache nicht, aber sie ist unglaublich gut für das eigene Wohlbefinden.“ Nach einer Woche in der Schmerzklinik ist sie plötzlich schmerzfrei über die Station gelaufen und war damit völlig überfordert. Sie sagt: „Diesen Zustand der Schmerzfreiheit kannte ich einfach nicht mehr.“ In der Klinik infizierte sich Modesta mit Corona und musste den Aufenthalt unterbrechen. Sie war insgesamt 20 Tage lang positiv. „Das einzig Gute an der Unterbrechung war, dass die Antidepressiva, die ich bei meinem ersten Aufenthalt bereits bekommen hatte, schon ein wenig Wirkung zeigten“, sagt sie. „Ich konnte so schon benennen, dass die Medikamente bei mir anschlagen. Der Psychologe im Team gab mir ebenfalls die Rückmeldung, dass ich ihm schon deutlich besser gefallen würde. Auch mein Kopf hat dank der Therapie und der Medikamente aufgehört, ständig Probleme zu wälzen.“ Im September 2022 gab es einen Rückschlag. Modesta bekam, wahrscheinlich aufgrund einer Medikamentenreaktion, eine Nesselsucht. Ihr gesamter Körper ist von roten Pusteln übersäht, die stark jucken. Ihr Hausarzt setzte zunächst das Schmerzmittel und später das Antidepressivum ab. „Nun sind die Schmerzen und auch das Stimmungstief zurück“, sagt die Physiotherapeutin. „Aber ich habe es endlich geschafft, telefonisch in der Schmerzklinik durchzukommen. Ich gehe dort zeitnah wieder hin, um eine neue Medikamenteneinstellung zu bekommen. Und dann geht es weiter.“ Es stimmt etwas nicht? Hilfe suchen! Im Rückblick sagt sie: „Das, was ich damals mit mir selbst gemacht habe, ist aus heutiger Sicht unfassbar. Dass ich nicht schon viel früher um Hilfe geschrien habe, ist unverständlich. Aber so wird es vielen Betroffenen einer Depression oder depressiven Verstimmung gehen: Das Übel kommt schleichend und irgendwann hast Du das Gefühl, das war schon immer so und gehört so.“ „Ich kann wirklich nur jedem empfehlen: Wer Beschwerden hat, bei denen Ärzte auf Anhieb keine Ursache finden, geht bitte in eine multimodale Schmerzklink. Dort kann Euch umfassend geholfen werden. Der Besuch dort war meine größte Hilfe – und zwar ganzheitlich in Bezug auf meine Schmerzen, aber auch meine Psyche“, sagt Modesta. „Dort arbeitet ein interdisziplinäres Team zusammen aus Ärzten, Therapeuten, Psychologen mit verschiedenen Therapien. Es ist einfach so wichtig, dass nicht nur ein Teil beleuchtet wird, sondern der gesamte Mensch.“ Auszeiten müssen sein Ihr Therapeut sagte einmal zu ihr: Du musst lernen, dass Du auch wertvoll bist, wenn Du nur dasitzt und dich erholst. „Ich wohne über der Praxis. Wenn ich das Fenster öffne, höre ich die Klingel der Praxis“, erzählt sie. „Während ich also die Seele baumeln lasse, könnte ich auch nützlich sein. Das auszuschalten, ist eine harte Übung.“ Modesta hat sich trotzdem Auszeiten genommen. Sie hat jetzt jeden Dienstagvormittag frei. Aber sie brauchte etwa vier Wochen, bis sie sich in dieser freien Zeit entspannen konnte. Wieso die Praxisinhaberin sagt, dass sie die Zeit der Depressionen ohne ihr Team nicht geschafft hätte, erfahrt ihr unter: up-aktuell.de/…/ohne-mein-team-haette-ich-meine-depression-nicht-so-gut-ueberstanden Diese Artikel gehören auch zum Themenschwerpunkt "Depressionen und Co.: Schluss mit dem Tabu!": Depressionen und Co.: Schluss mit dem Tabu! Ersthelfer für psychische Gesundheit erkennen Auffälligkeiten und sprechen sie an „Ohne mein Team hätte ich meine Depression nicht so gut überstanden“: Praxisinhaberin Modesta Kriebel berichtet von ihrem Weg aus den Depressionen Depressionen, Angststörungen und Co.: Anzeichen erkennen - Viele Gesichter, unterschiedliche Symptome „Wenn das Telefon klingelte, habe ich gezittert und konnte nicht drangehen“ - Ergotherapeutin hat gelernt, mit ihrer psychischen Erkrankung umzugehen Psychologische Hilfen und Informationen: Wichtige Ansprechpartner und schnelle Notfallhilfen