Musik baut Brücken

Musik baut Brücken – auch zu demenzkranken Menschen. Diese Erfahrung hat die Podologin Sabine Petersohn gemacht. Schon seit Jahren singt sie gemeinsam mit ihren Patientinnen und Patienten und schafft somit einen Zugang zu Menschen, die oft nicht mal mehr ihren Namen kennen, aber mehrstrophige Lieder mitsingen können. Die 60-jährige Podologin hat schon immer gerne gesungen. Sie hat eine Stimmausbildung und sang jahrelang in einer Rock- und Pop-Band sowie im Gospelchor. Schon früh entdeckte sie, dass ihr Hobby ihr auch in ihrem Beruf Türen öffnet. „Viele meiner Demenz-Patienten haben Angst“, erklärt sie, „Angst vor dem Hinsetzen, Angst vor dem Stuhl, Angst davor, die Beine zu heben und auch Angst vor mir und der Berührung, ohne die es in meinem Beruf nun einmal nicht geht.“ Als die Podologin 1989 begann, in Pflegeheimen mit Demenzkranken, aber auch mit Menschen mit Lernschwierigkeiten Weihnachtslieder zu singen, merkte sie, dass selbst Menschen, die nicht mehr sprechen konnten, sich entspannten. „Das klappt bei etwa 80 Prozent meiner Patienten“, weiß sie aus ihrer 35-jährigen Berufserfahrung. Die „singende Fußpflegerin“ Mit dem Ruf als „singende Fußpflegerin“ lebt Sabine Petersohn gerne. Für sie ist das Wichtigste, dass sich ihre Patientinnen und Patienten wohlfühlen, sodass sie ihre Behandlung erfolgreich beenden kann. „Wenn man Menschen nicht mehr mit Worten erreicht, dann schafft man das über den Gesang.“ Oft sei es so, dass sowohl der Mensch mit Demenz als auch seine Begleitperson Angst haben, wenn sie in ihre Praxis kommen. „Der eine hat Angst vor Berührung, und der andere hat Angst davor, was bei der Behandlung alles schieflaufen kann“, sagt die Therapeutin. Wenn aber beide die Praxis mit einem besseren Gefühl verlassen, als sie gekommen sind, habe sie ihr Ziel erreicht, strahlt sie. Es sei nicht selten, dass die Begleitpersonen – in der Regel Angehörige des Demenzkranken – anschließend bei ihr anrufen und sich bedanken, dass alles so friedlich und harmonisch gelaufen sei. Von Beatles-Songs bis hin zu Kinderliedern Bei der Auswahl der Lieder stehen die Vorlieben ihrer Patient:innen im Vordergrund. „Ich schaue mir den Menschen sehr genau an und frage mich, welche Musik er mögen könnte“, erklärt die Podologin. Sie erinnert sich an einen Patienten, der mit 60 Jahren einen Schlaganfall hatte. Als er mit 65 Jahren in ihre Behandlung kam, entschied sie sich, ihm alte Beatles-Songs vorzusingen – und traf damit exakt seinen Musikgeschmack. Je weiter die Demenz fortgeschritten sei, desto besser liefen Kinder-, Volks- oder Weihnachtslieder. Sabine Petersohn berichtet von einer Patientin, die kein Wort mehr sprechen konnte. Ihr sang sie das Volkslied „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“ vor. „Und beim Refrain ‚Klipp, klapp‘ hat sie immer mitgesungen“, sagt sie voller Begeisterung. Und selbst bei Patientinnen und Patienten, die nicht mehr mitsingen können, merke man, dass sie sich entspannen. Mit dem Lied ein Gefühl transportieren Es komme nicht darauf an, ob man eine Gesangsausbildung gehabt habe oder einfach nur aus Freude singt. „Es ist wichtig, dass man mit dem Lied ein Gefühl transportiert und bei dem Gegenüber eine Reaktion bewirkt. Ich habe schließlich keinen Lehrauftrag, sondern einen Wohlfühlauftrag“, fasst die Therapeutin ihren Anspruch zusammen. „Ich möchte, dass sich meine Patienten bei mir wohlfühlen!“ Dabei sei es ebenso wichtig, sie auch verbal zu loben, wenn sie mitsingen oder zeigen, dass ihnen der Gesang gefällt, und sie entspannen. „Solche aufmunternden Worte unterstütze ich häufig dadurch, dass ich meinen Patienten ganz sanft über das Schienbein streiche.“ Eine Nachhaltigkeit ihres Tuns könne sie allerdings nicht erwarten, erklärt die Podologin. „Beim nächsten Termin nach vier bis sechs Wochen hat der Demenzkranke längst alles vergessen“, meint sie, „aber nicht seine Begleitung.“ Sie hat ihre Anspannung beim ersten Besuch verloren und freut sich auf eine entspannte halbe Stunde. „Sie weiß, dass ich ihren Schützling mit meinem Gesang emotional erreiche und er die Behandlung genießen kann!“ Gesangsdarbietung einer Patientin und ihrer Begleitung Eine Reaktion auf ihren Gesang hat die Therapeutin allerdings tief beeindruckt. Die Betreuerin einer 70-jährigen Patientin sei so begeistert von dem Singen gewesen, dass die beiden gemeinsam ein Lied von Conny Froboess und Peter Weck aus den 60er Jahren eingeübt haben. „Kürzlich haben sie mich dann mit diesem Lied ‚Lady Sunshine und Mister Moon‘ überrascht – ich habe mich sehr gefreut.“ Dies sei allerdings die Ausnahme und habe letztlich an dem Engagement der Betreuerin gelegen ... Podologie-Praxen sind überlaufen Ihre rund 200 Patientinnen und Patienten – davon lediglich fünf Patientinnen und Patienten mit Demenz – kennt Sabine Petersohn meist schon seit Jahren. „Wir Podologen sind alle überlaufen“, sagt sie. „Wer einmal einen Termin bei mir bekommen hat, der bleibt – meist über Jahre.“ Kürzlich erhielt sie einen verzweifelten Anruf einer Patientin, die auf der Suche nach einer Podologie-Behandlung war. Insgesamt hatte sie 58 Praxen abtelefoniert – ohne Erfolg. Die Podologin nahm sie nach diesem langen Leidensweg schließlich an, obwohl sie seit zehn Jahren keine neuen Patient:innen aufgenommen hat. „Früher habe ich elf Stunden pro Tag gearbeitet, aber jetzt möchte ich doch ein wenig kürzertreten, obwohl mir die Arbeit immer noch Spaß macht.“ Sorgen um Zukunft der Podologie Die Podologin macht sich Gedanken, wie sich ihr Beruf, der für sie nach wie vor eine Berufung ist, weiterentwickeln wird. „Als ich meine Ausbildung anfing, war ich 18 Jahre alt“, erinnert sie sich. „Aber welche heute 18-Jährigen interessieren sich für die Podologie?“ Die meisten, die sich für ihr Fach begeistern, seien heutzutage Quereinsteiger, kommen aus der Altenpflege und seien häufig um die 40 Jahre alt. Sabine Petersohn hat immer wieder Podologieschülerinnen und -schüler in ihrer Praxis mit ausgebildet – eine ist geblieben. Mit der jungen Podologin, die keine Kassenzulassung hat, hat sie 2023 eine Praxisgemeinschaft gegründet.