Der Weg zurück ins neue Leben

In Deutschland erleiden jährlich rund 270.000 Menschen einen Schlaganfall. Er kommt meist ohne Vorwarnung und trifft Betroffene und deren Angehörige häufig ganz plötzlich. Nichts ist mehr so wie es war, aber es gibt auch Wege zurück ins Leben, weiß der Physiotherapeut Helmut Gruhn. Mit seinem Intensivkonzept „Back-to-life“ hat er schon vielen Menschen helfen können. Vor etwa 20 Jahren hat er das Konzept zur integrativen Therapie von Schlaganfallpatient:innen nach der klinischen Rehabilitation entwickelt. Das Besondere an „Back-to-life“: Die Therapiezeiten sind länger und erfolgen in kürzeren Abständen als in der „normalen“ Physiotherapie. „Die Begriffe ‚interdisziplinär‘, ‚alltagsorientiert‘ sowie ‚Einbezug der Angehörigen‘ werden sehr konsequent und ausdauernd umgesetzt“, sagt Helmut Gruhn. „Dazu gehören auch Hausbesuche.“ Grundlage ist das Bobath-Konzept, ein rehabilitativer Ansatz in der Therapie von Patient:innen mit Schädigungen des Gehirns oder des Rückenmarks. Ziel des Konzeptes ist es, den Menschen nach einem Schlaganfall dabei zu helfen, ihren Alltag wieder selbstständiger zu bewältigen. Mensch steht im Mittelpunkt „Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt mit all seinen Wünschen und Bedürfnissen – und nicht die Technik“, erklärt Helmut Gruhn. „Und das nicht nur während der Therapie, sondern auch in seinem Alltag.“ Er geht mit seinen Patientinnen und Patienten dahin, wo sie sich gerne aufhalten, in ihren Alltag, zu ihren Hobbys – zurück ins Leben. Daher kann es durchaus vorkommen, dass man den Praxis-Chef auf dem Markt mit seinem 95-jährigen Patienten trifft. Oder im Fußballstadion seines Lieblingsvereins, den Offenbacher Kickers. Natürlich sitzen er und sein Patient ganz oben auf der Tribüne – die Treppe zu bewältigen ist die Therapie, das Fußballspiel die Belohnung. Für solche „Bonbons“ zahlen die Betroffenen gerne auch aus eigener Tasche, denn es bringt ihnen ein Stück Lebensqualität zurück. Marketing-Seminar als Auslöser Schon in den 90er Jahren spezialisierte sich Helmut Gruhn auf die ambulante Schlaganfall-Rehabilitation. „Auslöser war ein Marketing-Seminar bei buchner“, sagt er. „Das empfahl ein Alleinstellungsmerkmal auch für Therapiepraxen. Die Idee, lieber spitz in den Markt zu gehen als breit, faszinierte mich.“ Und in der ambulanten Schlaganfall-Rehabilitation sah er schon damals ein unglaubliches Therapiepotenzial, und „das gibt es heute noch.“ Das erste Jahr als wichtige Weichenstellung Das erste Jahr nach dem Schlaganfall sei entscheidend, erklärt Helmut Gruhn. Was viele Hausärzte und Betroffene allerdings nicht wissen: Der Hausarzt kann einer Patientin oder einem Patienten im ersten Jahr nach seinem Schlaganfall bis zu fünfmal Ergo- und Physiotherapie verordnen, solange er das Gefühl hat, dass es hilft. „Diese Zeit ist eine ganz wichtige Weichenstellung für einen Neustart zurück ins Leben“, sagt der Therapeut, „da hier die Potenzial-Entwicklung besonders hoch ist.“ Voraussetzung für die Kostenübernahme sei eine ärztliche Verordnung – „ohne Budgetierung und Regressprobleme für den Arzt, was nur wenige wissen“. Denn: Schlaganfall-Patient:innen sind Patienten mit besonderem Verordnungsbedarf. Mit entsprechender Diagnose kann ein Jahr lang wirtschaftlich neutral verordnet werden (pro Quartal muss ein Arzt-Patient-Kontakt stattfinden), heißt es in den Verordnungstipps vom Schlaganfall-Ring. Und Helmut Gruhn ergänzt: „Das Schöne ist, dass es möglich sein kann – das Traurige, dass es nicht oder kaum umgesetzt wird.“ Daher sollten sich Angehörige nicht von Ärzt:innen oder Krankenkassen abwimmeln lassen. Im Gegenteil: Sie müssten „ler- nen, zu drängeln“. Intensive Therapiephase in den ersten acht Wochen Empfehlenswert sei eine intensive Therapiephase für vier bis acht Wochen mit je zwei bis vier Behandlungen Physio- und Ergotherapie für je 50 bis 60 Minuten pro Woche – am besten eine neurophysiologische Therapie. Zusätzlich sollten die Betroffenen täglich zu Hause Übungen machen und bei Bedarf logopädische Hilfe in Anspruch nehmen. Die neurophysiologische Therapie fördere die Wahrnehmung, sei spannungsregulierend, mache aktiver und sei prinzipiell nicht anstrengend. Dennoch sei es wichtig, auf Zeichen von Überlastung zu achten und regelmäßig Pausen einzulegen, erläutert der Praxisinhaber. Vom dunklen Keller zum lichtdurchfluteten Perzeptionshaus Umgesetzt hat er seine Ideen im hessischen Hainburg: Im Oktober 1973 eröffnete er die erste Krankengymnastik-Praxis des Kreises Offenbach – gemeinsam mit seiner Frau Helga Gruhn-Pospischil, deren Schwerpunkt auf der Behandlung von Kindern mit Entwicklungsverzögerungen liegt. „Angefangen haben wir mit 60 Quadratmeter großen dunklen Kellerräumen“, erinnert sich der Praxis-Chef. „Von da aus haben wir uns im wahrsten Sinne des Wortes nach oben gearbeitet.“ Bis sie rund zehn Jahre später nach ihren Plänen das lichtdurchflutete Perzeptionshaus errichteten – ein „Wohlfühlort für positive Energie, Menschlichkeit und Wärme“. Nach einem halben Jahrhundert ist das rote Backsteinhaus eine Institution für die Behandlung von Menschen mit Schlaganfällen und Kindern mit neurologischen Beeinträchtigungen geworden, heißt es in Presseartikeln. Der Name „Perzeption“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „erfassen, ergreifen, wahrnehmen“. Die Idee zu diesem Wort hatte damals ein Patient aus dem Marketingbereich – es erschien dem Ehepaar Gruhn als die treffende Bezeichnung für ihr Gesamtkonzept. Nach 50 Jahren ein wenig kürzer treten Nach einem halben Jahrhundert physiotherapeutischer Arbeit will der inzwischen 75-jährige Helmut Gruhn ein wenig kürzertreten. Vor 15 Jahren hat er seine Kassenzulassung zurückgegeben und das Perzeptionshaus zu einer Privatpraxis gemacht. Auch sein Fortbildungsprogramm hat er abgesetzt: „In 30 Jahren habe ich etwa 100 Bobath-Kurse mit rund 1.000 Absolventen gegeben“, sagt er. „Corona war eine gute Zeit, nachzudenken und dieses Kapitel abzuschließen.“ Stattdessen bietet er für „Neuro-gierige Therapeuten“ kleinere Kurse vor Ort in Praxen und Hospitationen an. „Immer wieder kommen Betroffene mit ihrem Therapeuten und umgekehrt zu einer Supervision – das ist so spannend, wie man einen guten Krimi schaut!“ Sein Fokus liegt jetzt darauf, Betroffene in Einzelsitzungen nach den „Back-to-life“-Bausteinen zu behandeln. Bleibt weiter im Dienst der neurologischen ambulanten Reha Helmut Gruhn ist noch lange nicht müde, um die neurologische ambulante Rehabilitation zu unterstützen. Er will weiterhin in Zeitung, Radio und TV auf die Bedürfnisse der Betroffenen aufmerksam machen und Lösungen anbieten. Und er werde weiter als Referent und Impulsgeber auf Messen (REHAB), Kongressen, in Kliniken und Selbsthilfegruppen tätig sein und Spenden sammeln. Sein Herzenswunsch ist seit rund zwei Jahren die Gründung einer Selbsthilfegruppe Offenbach-Hanau. „Ich habe noch keinen gefunden, der sich verantwortlich zeichnet“, bedauert er, „aber ich bleibe am Ball ...“ Das Intensiv-Konzept „Back-to-life“ Das von Helmut Gruhn entwickelte Intensiv-Konzept „Back- to-life“ gliedert sich in vier verschiedene Bausteine, die flexibel auf die Bedürfnisse der Patientin oder des Patienten abgestimmt sind: 1. „Back-to-life“ START: Der erste Baustein beinhaltet das gegenseitige Kennenlernen, eine erste Befundaufnahme und die zukünftige Orientierung. Dauer: 1,5 Stunden. Eine Zusammenarbeit von Physio-, Ergotherapeut:innen und Logopäd:innen sowie Psycholog:innen ist in allen Zeiteinheiten erwünscht. 2. „Back-to-life“ INTENSIV: Ziel dieser Intensivbehandlung sei es, dass die Patient:innen nach klinischer Reha Zuhause ankommen. Die Gestaltung der häuslichen Umgebung und die Entdeckung und Förderung der Potenziale stehen im Mittelpunk. Dauer: vier Wochen, vier Tage pro Woche und zwei bis vier Stunden pro Tag. 3. „Back-to-life“ KOMPAKT: In diesem Baustein geht es darum, ein konkretes alltagsorientiertes Ziel mit dem Betroffenen zu bestimmen und das Potenzial ausdauernd und konsequent zu fördern. Dauer: eine Woche à vier Tage, sechs Therapiestunden insgesamt. 4. „Back-to-life“ VARIABEL: In dieser Phase gilt es, den erreichten Status quo zu erhalten und zu stabilisieren, und zwar im Lebensumfeld der Patient:innen. Dazu gehören auch Theater- und Stadionbesuche, Einkaufstouren, Gartenarbeit oder andere Hobbys. Dauer: sechs Wochen, jeweils ein Tag, neun Therapiestunden insgesamt. Die ersten drei Bausteine werden laut Helmut Gruhn am meisten angewendet.