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Blankoverordnung Physio: Zwischen Verantwortungsappellen und Systemfehler

Warum wir bessere Regeln brauchen
Auf der einen Seite gibt es klare vertragliche Vorgaben, die festlegen, wie Physiotherapeutinnen und -therapeuten mit einer Blankoverordnung behandeln dürfen. Auf der anderen Seite wird von Seiten der GKV an Heilmittelerbringer:innen appelliert, die vertraglichen Möglichkeiten aber bitte nicht wirklich zu nutzen. Denn die GKV hat Angst davor, dass sonst die Kosten steigen. Was sie dabei übersieht: Nicht die Therapeut:innen sind das Problem, sondern das System selbst setzt falsche Anreize.
Blankoverordnung Physio: Zwischen Verantwortungsappellen und Systemfehler
© iStock: skynesher

Verantwortungsvoll handeln?

Die Krankenkassen fordern von Physiotherapeut:innen, verantwortungsvoll mit den Freiheiten der Blankoverordnung umzugehen. Doch was heißt verantwortungsvoll? Verantwortungsvoll gegenüber den GKV-Finanzen heißt, so wenig Therapie bzw. so geringe Kosten wie möglich. Also lieber KG als MT, lieber 25 Minuten statt 15 Minuten behandeln, für denselben Preis.

Aber ist es verantwortungsvoll gegenüber den Patientinnen und Patienten, das Heilmittel nach den Kosten auszuwählen oder auf eine Doppelbehandlung zu verzichten, die therapeutisch sinnvoll wäre?

Und ist es unternehmerisch verantwortungsvoll, MT zu erbringen, weil das therapeutisch passender ist, aber nur KG abzurechnen, um die Kosten für die GKV niedrig zu halten? Oder 25 Minuten zu behandeln für den Preis einer Einzeltherapie statt 30 Minuten im Rahmen einer Doppelbehandlung – die nach Vorgaben zur Blankoverordnung eindeutig erlaubt und vorgesehen ist? Übersetzt ins Unternehmerische: Ist es verantwortungsvoll dem Unternehmen gegenüber, 25 Minuten für einen Preis zu behandeln, wenn man den Preis durch weitere fünf Minuten Behandlung verdoppeln könnte?

Ist das den Mitarbeiter:innen gegenüber verantwortungsvoll? Denn diese unternehmerischen Entscheidungen wirken sich auf die Einnahmen und damit auch auf die Höhe der Gehälter aus, die gezahlt werden können. Ist es gegenüber der Gesellschaft verantwortungsvoll, die Gehälter von Therapeutinnen und Therapeuten niedriger zu halten, als sie sein müssten, und damit den Beruf an Attraktivität für den Nachwuchs verlieren zu lassen und den Fachkräftemangel weiter zu befeuern?

Ist es als Arbeitgeber:in mit gesetzlich verankerter Fürsorgepflicht verantwortungsvoll, die Mitarbeiter:innen aus rein wirtschaftlichen Gründen im 15-Minuten-Takt einen Patienten nach dem anderen abarbeiten zu lassen?

Diese Liste an Fragen ließe sich noch weiter fortsetzen, aber eines wird jetzt schon klar: Mit einem Appell an das Verantwortungsgefühl der Heilmittelerbringer: innen kommen wir nicht weiter. Das hilft weder der GKV noch der Heilmittelbranche und wirkt vor diesem Hintergrund eher wie ein Ausdruck von Hilflosigkeit.

Leistungsbeschreibung setzt falsche Anreize

Die derzeit geltenden Regelungen machen es Praxisinhaber: innen nahezu unmöglich, gleichzeitig ihrer Verantwortung als Arbeitgeber:in, Therapeut:in, Unternehmer:in und Leistungserbringer:in der GKV gerecht zu werden. Und der Grund dafür ist nicht fehlendes Verantwortungsbewusstsein, sondern ein Fehler im System: die aktuelle Leistungsbeschreibung in der Physiotherapie.

Die derzeitige Leistungsbeschreibung setzt die falschen Anreize. Nicht nur gibt es unterschiedliche Leistungspositionen mit variabler Vergütung – etwa zwischen klassischer Krankengymnastik und höher dotierten Zertifikatspositionen wie der Manuellen Therapie – sondern auch eine flexible Zeitspanne für Einzelbehandlungen. Die liegt üblicherweise zwischen 15 und 25 Minuten. Die Folge: Therapeut:innen können sich im Rahmen der Blanko-VO dafür entscheiden, 25 Minuten zu behandeln und dafür eine Einzelleistung abzurechnen. Oder sie können 30 Minuten – also zweimal 15 Minuten im Sinne des Vertrages – behandeln und dafür zwei Einzelleistungen in Rechnung stellen. Das ist nicht nur korrekt, sondern oft auch im Sinne einer besseren Versorgung.

Kombiniert man dieses Prinzip nun noch mit höher vergüteten Zertifikatsleistungen, lässt sich der Umsatz bei fast gleichem Zeiteinsatz gegenüber einer einfachen Behandlung mehr als verdoppeln. In Zahlen ausgedrückt, sieht das dann so aus: Erhält eine Patientin 25 Minuten KG als Einzelbehandlung, stellt die Praxis 28,91 Euro (Preise ab 01.07.2025) in Rechnung. Erhält die Patientin 30 Minuten (Doppelbehandlung) KG bekommt die Praxis 57,82 Euro. Und wenn sich die Therapeutin für MT anstelle von KG entscheiden kann, liegt die Vergütung sogar bei 69,46 Euro.

Kosten schwer kalkulierbar

Wir sehen, die Kosten der Blankoverordnung sind für die GKV schwer kalkulierbar. Eine (knappe) halbe Stunde Physiotherapie kann unter 30, aber auch fast 70 Euro kosten. Anstatt sich nun aber mit Appellen an die Praxisinhaberinnen und -inhaber zu wenden oder gar in den Raum zu stellen, dass die Blankoverordnung aus Kostengründen wieder aus der Versorgung verschwinden könnte, sollte sich die GKV lieber der Ursache des Problems zuwenden.

Was jetzt passieren muss

Wenn die Blankoverordnung ein zukunftsfähiges Instrument in der Heilmittelversorgung bleiben soll, braucht es strukturelle Reformen – nicht moralisierende Appelle. Eine Weiterentwicklung der Leistungsbeschreibung in der Physiotherapie ist längst überfällig. Notwendig wären:

  • Die Abschaffung der Zertifikatspositionen (wie Manuelle Therapie) mit entsprechendem Honorarausgleich,
  • feste Zeitvorgaben für physiotherapeutische Leistungen,
  • Diagnostik- und Befundposition für die Regelversorgung,
  • klare Abgrenzung der Vor- und Nachbereitung, so wie man das bei den Ergotherapeuten sinnvoll geregelt hat.

Eine solche Neustrukturierung würde die ökonomischen Anreize von der Auswahl der medizinisch indizierten Auswahl der Positionen entkoppeln und gleichzeitig die Steuerung der Versorgung verbessern. Dass es möglich ist, zeigt ein Blick zur Ergotherapie und Logopädie. Hier gibt es weder Zeitspannen für die Behandlung noch unterschiedliche Vergütungen aufgrund von Zertifikaten oder ähnlichem.

Ein Blick nach vorn: Blankoverordnung als Regelversorgung

Keine Frage: Es wird nicht leicht, diese Punkte zu verändern. Aber das kann kein Grund sein, an einem offensichtlich fehlerhaften System festzuhalten. Beim Therapie Gipfel im vergangenen Jahr hatte Andrea Rädlein, Vorsitzende von Physio Deutschland, noch einmal betont, dass die Leistungsbeschreibung nach der Preisverhandlung ganz oben auf der diesjährigen Agenda der Verbände steht. Neue Preise gibt es seit dem 1. April, die Verhandlungen zur Änderung der Leistungsbeschreibung könnten also starten. Und wenn dann therapeutische Entscheidungen auf einer fairen und einheitlichen Vergütung basieren – ohne wirtschaftliche Fehlanreize – wird die medizinische Notwendigkeit wieder zur ausschlaggebenden Entscheidungsgrundlage. Genau das wäre verantwortungsvoll. Von allen Beteiligten.

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Lang
01.06.2025 10:56

Sehr geehrte Damen und Herren, als Praxisinhaber in Berlin begrüße… Weiterlesen »

Ela
31.05.2025 0:48

Es ist doch aberwitzig, kam der Patient doch zuvor auch… Weiterlesen »

Marco Bruhn
30.05.2025 23:50

Ich bin auch der Meinung das es einem Einheitspreis von… Weiterlesen »

Frans Stassen
30.05.2025 17:05

Typisch Krankenkassen , alles sollen wir tun aber es darf… Weiterlesen »

Günter Schneider
30.05.2025 13:02

Wäre es nicht sinnvoller, eine ganz neue Leistungsbeschreibung zu erstellen?… Weiterlesen »

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