CANVAS – eine Erkrankung, die schleichend kommt …

Die ersten Anzeichen der seltenen genetischen Erkrankung CANVAS-Syndrom sind unspezifisch. Es beginnt mit einem chronischen Reizhusten oft begleitet von einer Schluckstörung. Die weiteren Symptome wie Schwindel und Gleichgewichtsstörungen treten häufig erst Jahrzehnte später auf. CANVAS ist nicht heilbar, eine spezielle Schwindeltherapie aber kann den Alltag der Betroffenen erleichtern, weiß Ergotherapeutin Ramona Küster. Ihr Grundsatz: Je früher die Therapie startet, desto besser. Doch genau darin liegt das Problem. Die diagnostischen Maßnahmen dieser neurologischen Erkrankung laufen vielfach ins Leere, da sie selten und weitgehend unbekannt ist. Dies bedeutet für viele Betroffene oft einen langen Leidensweg, bevor sie wissen, was ihnen fehlt. Aktuell kann CANVAS nur symptomatisch behandelt werden – beispielsweise mit der Schwindel- und Vestibular-Therapie nach IVRT (Institut für vestibuläre Rehabilitationstherapie). Ausbildung zur Schwindel- und Vestibular-Therapeutin Ramona Küster stieß auf diese spezialisierte Therapie durch eine Kollegin, die ihr berichtete, wie sie und ihre Patient:innen davon enorm profitiert hatten. Die Neugier der 32-jährigen Ergotherapeutin war geweckt. 2020 absolvierte sie die Ausbildung zur Schwindel- und Vestibular-Therapeutin. Anfangs arbeitete sie hauptsächlich im Bereich des funktionellen Schwindels, der häufig psychische Ursachen hat. Seit der Eröffnung ihrer Praxis behandelt sie die verschiedensten vestibulären Erkrankungen wie Lagerungsschwindel, vestibuläre Hypofunktion (eine Abnahme der Funktionen im Gleichgewichtsorgan) oder auch das Akustikusneurinom (ein seltener, gutartiger Tumor des Hör- und Gleichgewichtsnervs). GKV übernimmt größtenteils Therapiekosten Die Kosten für die Schwindel- und Vestibular-Therapie werden zum größten Teil von den Krankenkassen übernommen. Wie bei den üblichen ergotherapeutischen Leistungen zahlen die Patient:innnen nur die Verordnungsblattgebühr sowie zehn Prozent der in Anspruch genommenen Leistung. Verordnet wird die Therapie von Haus- und HNO-Ärzte:innen, Neurolog:innen oder Psychiater:innen. Die Diagnosecodes lauten u.a. R42, H81, H83, F40.8 sowie AB32.0., in der Ergotherapie EN1, EN2, EN3 oder PS2. Die sensomotorisch-perzeptive Behandlung dauert 45, die psychisch-funktionelle Behandlung 60 Minuten. Ausführliche Anamnese vor Therapiebeginn Vor Therapiebeginn führt Ramona Küster eine ausführliche Anamnese und Befundung mit speziellen Testungen durch. Auf Grundlage dieser Ergebnisse wird eine individuelle Therapie mit verschiedenen Übungen festgelegt. Die Mitarbeit der Betroffenen spielt eine zentrale Rolle. „Der Erfolg der Therapie hängt massiv davon ab, wie diszipliniert die Betroffenen sind und ihre speziellen Übungen täglich – mehrfach – durchführen“, betont die Praxis-Chefin. „Nur durch dieses Üben wird das Gehirn dazu gebracht, das vestibuläre System besser zu integrieren. Es wird immer wieder gefordert und so gefördert.“ 55-jährige Patientin mit CANVAS Ramona Küster berichtet von einer 55-jährigen Patientin, die im Juli 2024 in ihre Praxis kam. Schon seit Langem litt die gelernte Krankenschwester an einem hartnäckigen trockenen Husten. Als ihre Tochter im Oktober 2022 bemerkte, dass sie beim Gehen schwankte, ging sie gleich zum Arzt. In der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck stand nach mehreren Tests die Diagnose fest: CANVAS. Während der Reha in Damp erzählte ein Therapeut der Patientin von der vestibulären Rehabilitationstherapie (VRT). Sie informierte sich und fand die Praxis von Ramona Küster über die IVRT-Therapeutenliste (www.ivrt.de/fuer-betroffene/therapeutensuche). „Sie klagte über viele Beschwerden“, erinnert sich die Praxis-Chefin. Dazu gehörten Missempfindungen an den Füßen, Gleichgewichtsstörungen (vor allem im Dunkeln oder bei fluoreszierendem Licht), visuelle Wahrnehmungsstörungen, eine schnelle Ermüdung, Muskelkrämpfe, Beschwerden beim Stuhlgang sowie Schlafprobleme und Störungen der Wärmeregulation. Anpassung der Therapie auf die speziellen Symptome In der ausführlichen Anamnese zeigten sich bei der Patientin deutliche Auffälligkeiten in der Bewegung und Koordination der Augen (Okulomotorik/gestörter vestibulookulärer Reflex – VOR) sowie Probleme im statischen und dynamischen Gleichgewicht. „Speziell auf diese Symptome wurde die Therapie angepasst – mit Übungen zur Verbesserung der Augen-Kopf-Koordination, hier vor allem der Blickstabilisation mit sogenannten Visitenkarten (Augen fixieren die Karte, während sich der Kopf bewegt/stabiles Bild bei Kopfbewegungen), Gleichgewichtsübungen mit geschlossenen Augen sowie Gehübungen mit Körper- und Kopfbewegungen.“ Nach 20 Terminen erhebliche Verbesserungen Einmal pro Woche erschien die Patientin in der Praxis, zu Hause trainierte sie dreimal täglich je 15 Minuten. „Am Ende von zwei Verordnungen mit jeweils zehn Terminen konnte sie sich in allen Bereichen verbessern.“ Sie habe gelernt, ihre körperlichen Fähigkeiten besser einzuschätzen und konnte ihre Grenzen schrittweise steigern, erzählt Ramona. Heute sei sie sogar in der Lage, den Seiltänzergang, in dem die Betroffenen auf einer gedachten Linie einen Fuß vor den anderen setzen müssen, zu schaffen. „Das wäre zu Beginn der Therapie noch undenkbar gewesen!“ Insgesamt konnte die Patientin durch die Therapie ihre Lebensenergie und ihr Wohlbefinden steigern, berichtet die Therapeutin. Sie bewege sich sicherer in ihrem Alltag und könne diesen wieder besser bewältigen. Und von der Therapie ist sie restlos überzeugt: „Sie war mein Gamechanger!“ Große Nachfrage nach spezieller CANVAS-Therapie Die Patientin ist für die Praxis-Chefin bislang der erste und einzige Fall mit der Diagnose CANVAS. „Jedes Symptombild ist unterschiedlich. Wichtig ist der Zeitpunkt, an dem man mit der Therapie beginnt und in welchem Stadium der Erkrankung man sich dann befindet.“ Auch die Behandlungsdauer variiert. Grundsätzlich verfolgt die Therapie das Ziel, dass die Symptome abklingen oder sich gar normalisieren – bei CANVAS geht es speziell darum, das Fortschreiten der Symptome weitestgehend einzuschränken. Ramona Küster schätzt die Nachfrage nach der Schwindel- und Vestibular-Therapie als sehr groß ein. Oftmals werden die Betroffenen von ihren Ärzt:innen zur Physiotherapie geschickt – an Ergotherapie werde häufig nicht gedacht, bedauert sie. Sie rät allen Erkrankten, selbst aktiv zu werden, denn es gebe mittlerweile viele gut ausgebildete und spezialisierte Ergo- und Physiotherapeut:innen auf diesem Gebiet. Großer Aufklärungsbedarf auch über die Bedeutung der Ergotherapie Die Ergotherapeutin wünscht sich mehr Aufklärung über die Erkrankung CANVAS, um Betroffenen frühzeitig mit dieser speziellen Therapie helfen zu können. „Nur so lässt sich der Krankheitsverlauf so lange wie möglich aufhalten bzw. eindämmen – ein großer Schritt zu mehr Selbstständigkeit.“ Sie habe den Eindruck, dass vor allem in Hausarztpraxen noch ein großer Aufklärungsbedarf bestehe – auch über die Bedeutung der Ergotherapie insgesamt... CANVAS CANVAS (Cerebellar Ataxia, Neuropathy, Vestibular Areflexia Syndrome) ist eine seltene chronisch-progrediente, neurologische Erkrankung. Sie führt zu Schädigungen des Nervensystems und äußert sich häufig durch eine zerebellären Ataxie (Störung der Bewegungskoordination), eine Neuropathie (Erkrankung der peripheren Nerven) und vestibuläre Areflexie (Fehlen von Reflexen). Erste Symptome treten meist nach dem 35. Lebensjahr auf. Die anderen Symptome folgen im Verlauf von Monaten oder Jahren. Es können auch Sprech- und Schluckstörungen auftreten. Bei vielen Patient:innen zeigte sich vor den ersten Symptomen schon jahrelang ein trockener Husten. Die genetische Ursache von CANVAS gilt seit 2019 als geklärt: Bei den Betroffenen wurde eine Mutation des RFC1-Gens nachgewiesen. Eine kausale Therapie ist nicht bekannt. Expert:innen zufolge können spezielle Behandlungsmethoden dazu beitragen, die Funktionen möglichst lange zu erhalten.