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Eine Kleinigkeit? Von wegen!

In meinem Plan steht eine neue Patientin, Diagnose: Radiushalsfraktur. „Keine große Sache“, denke ich mir. Frau E. trägt noch die Schiene. Auffallend ist die Haut der Finger, die aus der Schiene herausschauen und die unnatürlich wächsern aussieht.
Eine Kleinigkeit? Von wegen!
© Marek-und-Beier_aus-München

In der Anamnese erfahre ich, dass Frau E. im Urlaub gestürzt ist und ein Arzt am Urlaubsort die erste Behandlung übernommen hat. „Ich soll den Arm immer genau so halten, hat der Arzt gesagt.“ Dabei hält sie den Arm vor dem Körper in einer leichten Adduktion der Schulter, der Ellenbogen ist gebeugt, die Hand zeigt zum Oberkörper. Das Handgelenk ist mit der Schiene fixiert, die Finger in Verlängerung der Hand in leichter Ruheposition.

Wie konnte das passieren?

Und genauso, wie sie jetzt vor mir sitzt und die Hand vor dem Körper hält, so hat sie den Arm seit dem Unfall gehalten. Tagsüber. Nachts auch, da haben sie und ihr Mann den Arm mit Kissen so unterlagert, dass er in der gleichen Stellung war wie tagsüber. Und zwar über einen Zeitraum von sechs Wochen, die seit dem Unfall vergangen sind. Die Schiene kam dran und blieb dran. Die Finger sind sehr berührungsempfindlich, was dazu führt, dass Frau E. die Hand nicht gewaschen hat und auch die Finger nicht bewegt.

Das ist noch lange nicht alles

Dass ich bisher nicht erfasst habe, was eigentlich Sache ist, wird mir kurze Zeit später klar. Als ich das Handgelenk untersuchen will, die Schiene abnehme und Frau E. bitte, den Unterarm auf der Behandlungsbank abzulegen. Das geht nämlich nicht. Nicht nur das Handgelenk in seiner Bewegungsfähigkeit ist eingeschränkt, sondern die komplette linke obere Extremität: angefangen bei den Fingern, die nur geringgradig gebeugt werden können über den Daumen, der in allen Ebenen eingeschränkt ist. Der Ellenbogen ist in der Beugung und Supination fixiert, und auch die Beweglichkeit der Schulter ist massiv eingeschränkt.

Und das nur wegen einer Fraktur im Unterarm! Fast 20 Gelenke sind beeinträchtigt, die meisten davon waren von der Verletzung nicht betroffen. Diese Gelenke hätten die ganze Zeit bewegt werden müssen. Nur hat das niemand der Patientin gesagt. Und die Patientin hat die Anweisung des Arztes, so wie sie sie verstanden hat, sehr ernst genommen.

Ein weiter Weg

Frau E. hat vor dem Unfall Akkordeon gespielt. Sie ist Hausfrau, doch im Moment muss ihr Mann alle Aufgaben im Haushalt übernehmen. Sie macht sich große Sorgen, ob sie all das irgendwann wieder kann. Ich bin zuversichtlich: „Was ich brauche, ist Ihre Mitarbeit. Wir können das schaffen. Sie müssen täglich so oft wie möglich zuhause üben. Es wird weh tun. Es wird nicht leicht, aber es ist möglich.“ Das gebe ich ihr zusammen mit vielen Hausaufgaben mit auf den Heimweg.

Zum Ende der Verordnung ist die Beweglichkeit in vielen Gelenken deutlich besser, die Finger sind weniger berührungsempfindlich. Die Haut hat sich durch gute Pflege erholt und sieht fast normal aus. Mein Versuch, dem Arzt das Ausmaß der Einschränkungen zu vermitteln und eine erhöhte Therapiefrequenz oder zusätzliche Therapiezeit für die Patientin zu erreichen, bleibt erfolglos.

In der Therapie arbeite ich an der Erweiterung des Bewegungsausmaßes, spreche Mut zu und gebe Anregungen und Hausaufgaben, um den Arm zuhause optimal zu beüben. Frau E. arbeitet fleißig mit, und so holen wir aus der Therapie heraus, was wir können. Nach ungefähr einem halben Jahr haben wir es geschafft – Frau E. kann wieder Akkordeon spielen!

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