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„Ich kann nicht verstehen, warum ich mit meinen Rückenschmerzen nicht selbst zu einem Physiotherapeuten gehen kann“

Interview mit dem Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung Andreas Westerfellhaus zu Direktzugang, Selbstverwaltung und Akademisierung.
Andreas Westerfellhaus ist seit 2018 Bevollmächtigter der Bundesregierung für Pflege. Damit ist er Ansprechpartner für alle in der Pflege Beteiligten und setzt sich für die Interessen der Pflegebedürftigen im politischen Raum ein. Westerfellhaus, der selbst den Pflegeberuf von Grund auf erlernt hat, war von 2009 bis 2017 Präsident des Deutschen Pflegerats und von 2000 bis 2018 als Geschäftsführer der ZAB – Zentrale Akademie für Berufe im Gesundheitswesen GmbH tätig.
„Ich kann nicht verstehen, warum ich mit meinen Rückenschmerzen nicht selbst zu einem Physiotherapeuten gehen kann“
© © Pflegebevollmächtigter, Fotograf Holger Gross

Ich nehme es so wahr, dass in der Pandemie, aber auch sonst, sehr viel über den Flaschenhals Arzt laufen muss. Pfleger, wie auch Therapeuten, haben wenig Spielraum, direkt mit Patienten in Interaktion zu treten, ohne vorherige Zuweisung oder Zustimmung durch den Arzt. Wie sehen Sie das?

Aus der Pflege höre ich oft: „Wir können so viel, aber wir dürfen es nicht.“ Das liegt daran, dass berufsrechtliche, haftungsrechtliche und leistungsrechtliche Grundlagen fehlen. Dabei können wir es uns gar nicht mehr leisten, alles durch den Flaschenhals Arzt laufen zu lassen. Da muss ein Paradigmenwechsel stattfinden: Wir können eine Gesundheitsversorgung in Zukunft nicht mehr gewährleisten, wenn wir in den alten Sparten denken. Mit den Instrumenten der letzten 30 Jahre werden wir die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte sicher nicht stemmen.

Ich kann zum Beispiel nicht verstehen, warum ich mit meinen Rückenschmerzen nicht selbst zu einem Physiotherapeuten gehen kann. Wenn der dann sagt, das ist ein Fall für den Orthopäden, ist das ja ok. Aber wenn ich vorab acht Wochen auf einen orthopädischen Termin warten muss, bin ich beim qualifizierten Physiotherapeuten doch erst einmal besser aufgehoben. Internationale Studien zeigen auch, welche volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Direktzugang hat, weil man schneller in den Gesundungsprozess und wieder in die Arbeitsprozesse eintreten kann.

Für alle, denen das vielleicht nicht bekannt ist: Im Koalitionsvertrag steht die Neujustierung der Zusammenarbeit der Gesundheitsfachberufe. Wir sind mitten in diesem Strategieprozess. Das internationale Ausland macht uns in vielen Bereich vor, wie Versorgung anders gedacht wird, wie sie anders gelebt wird: interprofessionell und interdisziplinär. Wir dümpeln immer noch in unserem Verständnis der Trennlinien herum. Das kann keine Zukunft haben. Das ist Ressourcenverschwendung und dient nicht einer sicheren, qualifizierten, zeitnahen Versorgung der Patienten und Pflegebedürftigen.

Sagen Sie das auch Ihrem Minister? Der hat ja mal gesagt, mit ihm gäbe es keine Akademisierung.

Natürlich diskutieren wir das und nicht alle finden gut, was ich sage. Aber ich glaube, die vielen mutigen Schritte, die gerade der Gesundheitsminister Jens Spahn auf den Weg gebracht hat, zeigen auch, dass er entscheidungswillig und entscheidungsfreudig ist. Ich hätte vor fünf Jahren nicht gedacht, dass wir die Neujustierung der Gesundheitsfachberufe und das damit verbundene Neuordnen der Kompetenzen in dieser Geschwindigkeit diskutieren werden. Und die Pandemie hat nochmal gezeigt, wie notwendig das ist.

Sie haben vor kurzem gesagt, Sie würden sich wünschen, dass Pflegekräfte solidarischer zusammenstehen. Im Heilmittelbereich sind weniger als 30 Prozent in Verbänden aktiv, das dürfte in der Pflege ähnlich schlecht aussehen. Sie begrüßen, dass es in Nordrhein-Westfalen eine Pflegekammer gibt, die auch ausreichend finanziert wird, damit es nicht die gleichen Startschwierigkeiten gibt wie in Niedersachsen. Ist eine Kammer in einer Pandemie ein hilfreicherer Ansprechpartner für die Politik?

Nehmen wir als Beispiel die Pflegekammer in Rheinland-Pfalz. Eine solche Kammer gehört, genau wie die Ärztekammer in die Krisenstäbe vor Ort, damit diese alle Sektoren beleuchten können und wissen, was die einzelnen Berufsgruppen leisten können. Zudem können sie Aussagen darüber treffen, wie viele Experten es in den einzelnen Sektoren gibt, wie viele zum Beispiel für die Intensivstationen zur Verfügung stehen. Wir haben aktuell ein zentrales Bettenregister und wissen wie viele Intensivbetten es gibt. Wir haben aber kein Register darüber, wie viele Pflegefachkräfte es gibt. Die letzten Zahlen, die wir dazu haben, stammen vom Statistischen Bundesamt und sind aus 2018.

Damit wir aus der Pandemie lernen können, müssten wir zunächst ein Register über die ausgebildeten Fachpflegekräfte haben: Wie alt sind die? Wo arbeiten sie? Arbeiten sie in Teilzeit? Sind sie rekrutierbar? Sind sie ansprechbar? Was müssen wir tun, um in den einzelnen Ländern genügend Fachweiterbildungen anzubieten, damit genug Nachwuchs da ist? – Es ist eine der originären Aufgaben einer Selbstverwaltung, diese Informationen zur Verfügung zu stellen, die Zusammensetzung der Berufsgruppe zu beschreiben, daraus Ableitungen vorzunehmen und mit der Landesregierung Konsequenzen dazu auszuhandeln. Gleichzeitig ist eine Bundespflegekammer als Sparringspartner für die Politik auf Bundesebene dringend nötig ist. Die Politik braucht auch einen Ansprechpartner, von dem sie weiß, er ist legitimiert für diese Berufsgruppe zu sprechen, zu handeln und zu entwickeln – und nicht wie in der Vergangenheit viele berufene Institutionen, die alle nur für sich sprechen.

Im Heilmittelbereich gibt es gar keine Selbstverwaltung. Wäre die Pflege hier ein Vorbild?

Man muss sich fragen, ob sich berufspolitisch alles über die Verbände regeln lässt. Wenn wir hier einen 90-prozentigen Organisationsgrad bei den Berufsverbänden hätten, ließe sich das vielleicht alles ganz anders bewerkstelligen. Aber der Organisationsgrad liegt in der Pflege bei ungefähr zehn Prozent. Damit können sie nicht behaupten, für 100 Prozent der Berufsgruppe aufzutreten. Wenn sie aber ein Mandat aus einem Selbstverwaltungsorgan haben, sieht die Sache anders aus.

Und man muss diejenigen, die einen vertreten, auch in die Lage versetzen, das professionell, juristisch, wissenschaftlich, organisatorisch gescheit zu tun. Ich war acht Jahre lang ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Pflegerates – ohne Aufwendungen, ohne Bezahlung, mit einem unglaublichen Einsatz an Freizeit. Ich habe das alles gerne gemacht, keine Frage, aber es müsste eigentlich jedem klar sein, dass man auf Dauer auf diese Strukturen nicht setzen kann.

Dass es anderes funktionieren kann, haben uns andere vorgemacht: Der Marburger Bund zum Beispiel hat Entwicklungsprozesse im Tarifsystem in die Umsetzung gebracht, weil sie gemeinsam stark aufgetreten sind. Wir haben auch europäische Nachbarn, bei denen der Organisationsgrad wesentlich höher ist, und da funktioniert es. Politik braucht einen Sparringspartner, der aus der Pflege legitimiert ist. Dann reden wir nicht über Pflege, sondern mit Pflege. Und ich glaube, das gilt für die anderen Berufsgruppen genauso. Die ganz visionäre Vorstellung wäre dann eine Gesundheitsberufekammer.

Noch ein letztes Thema: Die Akademisierung der Ausbildung. Der Zeitraum für die Modellversuche im Heilmittelbereich ist gerade erneut verlängert worden. Damit kommen wir jetzt insgesamt auf 17 Jahre. Was ist so schwierig daran, etwas umzusetzen, das im Ausland längst Standard ist?

Das macht mich mehr als unglücklich. Denn aus meiner Sicht kann man die erneute Verlängerung niemandem erklären. Ich denke jetzt geht es darum, Vertrauen zu gewinnen und zu zeigen – wenn wir nun schon noch weitere fünf Jahre brauchen – in welchen Schritten, in welchem Zeitstrahl wir das angehen, damit wir auch wirklich in fünf Jahren ankommen. Denn der Weg der Akademisierung ist dringend notwendig und bedarf jeglicher Unterstützung. Am Ende ist es natürlich auch eine Frage der Finanzierung. Aber was ist denn die Alternative? Wir brauchen ein anderes Zusammenspiel der Gesundheitsberufe. Wir brauchen mehr Autonomie in den einzelnen Berufsgruppen im Sinne der Patientinnen und Patienten und das braucht auch akademische Laufbahnen und akademische Qualifizierung.

Herr Westerfellhaus, vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch mit Andreas Westerfellhaus führte Ralf Buchner.

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