Schafft es die Heilmittelbranche in den Koalitionsvertrag?

Denn eigentlich hätte der SHV seinem Anspruch eines „Spitzenverbandes“ gerecht werden und sich auf zwei oder drei zentrale Forderungen festlegen können. Stattdessen berichten Teilnehmer:innen von zermürbenden Diskussionen beim Versuch einer Abstimmung und von fehlender Einigung auf eine gemeinsame Position. Jetzt wird also wieder jeder Verband für sich seine eigenen Ideen und Wünsche vorlegen. Was für ein Armutszeugnis für alle Beteiligten! Die Heilmittelbranche steht sich weiterhin selbst im Weg, während andere Gesundheitsberufe, wie z. B. die Pflege, schon länger viel geschlossener auf politischer Ebene agieren. Um den Koalitionären die Arbeit zu erleichtern, haben wir mal ein paar zentrale Maßnahmen als Blaupause zusammengetragen, wie sie in den ersten 100 Tagen spürbare Veränderungen herbeiführen können, die die richtigen Veränderungsimpulse setzen, Bürokratie reduzieren und die Versorgung der Bevölkerung verbessern.
1. Blankoverordnung wird Regelversorgung
Die Koalitionäre sollten festlegen, dass Heilmitteltherapie im Rahmen der GKV-Versorgung zukünftig grundsätzlich als Blankoverordnung erbracht werden soll. Mit der Blankoverordnung bleiben Ärzt:innen Veranlasser der Behandlung und Therapeut:innen erhalten den notwendigen Freiraum, die Therapie so zu gestalten, wie es medizinisch notwendig ist.
Ist das kurzfristig umsetzbar? Ja, denn dazu bedarf es lediglich zweier Änderungen in § 92 und § 125a SGB V. Im § 92 SGB V wird die Zuständigkeit des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) für die Erstellung und Aktualisierung der Heilmittel-Richtlinie (HeilM-RL) festgelegt. Damit der G-BA die Blankoverordnung als Regelversorgung umsetzen kann, muss in § 92 SGB V klargestellt werden, dass er für alle Diagnosegruppen die Blankoverordnung verbindlich festlegen soll. Der G-BA hat bewiesen, dass er solche Änderungen innerhalb von wenigen Wochen umsetzen kann. Dann können GKV und Heilmittelverbände in den Versorgungsverträgen in Kooperation mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) die konkrete Umsetzung regeln. Der aktuelle § 125a SGB V (Heilmittelversorgung mit erweiterter Versorgungsverantwortung) ermöglicht derzeit eine schrittweise Einführung der Blankoverordnung für ausgewählte Diagnosen. In § 125a SGB V müsste nun explizit formuliert werden, dass die Blankoverordnung als Regelversorgung gilt.
Was bringt das? Zu den laufenden Modellversuchen in der Ergotherapie und Physiotherapie gibt es durchweg positive Rückmeldungen: GKV und KBV sind voll des Lobes für diese neue Versorgungsstruktur. Heilmittel- und Arztpraxen erleben täglich, wie durch drastisch reduzierten Nachbesserungsbedarf bei den Heilmittelverordnungen die Bürokratie abgebaut werden kann. Außerdem können Patientinnen und Patienten endlich individueller und leitlinienkonform versorgt werden. Und nicht zu vergessen: Gut ausgebildete Fachkräfte bleiben im Beruf, weil sie im Rahmen der Blankoversorgung das erste Mal den therapeutischen Freiraum erhalten, den sie in der Ausbildung gelernt haben.
2. Elektronische Leistungsbestätigung
Die Koalitionäre sollten ergänzend zur aktuellen Quittierung der erhaltenen Behandlung (Unterschrift auf Papier) die digitale Quittung in das Regelverfahren aufnehmen. Es gibt bereits digitale Leistungsbestätigungsverfahren, die bislang allerdings in Modellen oder Einzelverfahren je Kasse umgesetzt werden. Dass sie gut funktionieren, zeigen z. B. die Techniker Krankenkasse und die Firma yoshteq mit der elektronischen Leistungsbestätigung (eLB). Bei den Hebammen läuft es seit einigen Jahren inzwischen flächendeckend, auch im Heilmittelbereich klappt es als Modell schon seit über einem Jahr. Mit der Berücksichtigung der digitalen Quittung als Alternative zur händischen, papierbasierten Unterschrift der Versicherten würde die Einführung solcher Verfahren stark vereinfacht und sich viel schneller umsetzen lassen. Dann müsste niemand mehr auf die TI und die elektronische Heilmittelverordnung warten.
Ist das kurzfristig umsetzbar? Ja, das lässt sich einfach im SGB V umsetzen. Um die digitale Quittungsalternative zu ermöglichen, sind folgende Änderungen erforderlich: Der § 302 SGB V regelt die Abrechnung von Heilmitteln und schreibt eine „unterschriebene Verordnung“ als Abrechnungsgrundlage vor. Hier bedarf es der Ergänzung eines Absatzes, der die digitale Quittierung als gleichwertige Alternative zur handschriftlichen Unterschrift anerkennt. Das könnte so formuliert sein: „Die Bestätigung der Inanspruchnahme einer Leistung kann auch in elektronischer Form erfolgen, sofern eine rechtskonforme, sichere und nachprüfbare Identifizierung der versicherten Person (z. B. durch eGK, digitale ID oder Krankenkassen-App) gewährleistet ist.“ Im § 124 SGB V wird die Zulassung der Heilmittelerbringer:innen und deren Abrechnung geregelt. Hier müsste klargestellt werden, dass digitale Verfahren zur Bestätigung der Leistungserbringung zulässig sind. Es könnte folgender Absatz ergänzt werden: „Die elektronische Bestätigung der Leistungserbringung durch die versicherte Person kann über ein sicheres, anerkanntes Verfahren erfolgen. Die Regelungen hierzu werden in den Verträgen zur Heilmittelversorgung (§ 125 SGB V) festgelegt.“ Der § 125 SGB V regelt die Verträge zwischen den Heilmittelverbänden und dem GKV-Spitzenverband. Hier sollten die Vertragspartner:innen verpflichtet werden, eine digitale Signatur- oder Quittierungsmethode in die Verträge aufzunehmen. Beispiel: „Die Vertragspartner nach Satz 1 haben sicherzustellen, dass alternative digitale Verfahren zur Bestätigung der erbrachten Leistungen eingeführt und umgesetzt werden.“ Heilmittelverbände und GKV könnten in den Versorgungsverträgen zeitnah die Details der konkreten Umsetzung regeln, denn es gibt genug Modelle, die nur in die Regelversorgung übernommen werden müssen. Die vielen kleinen Krankenkassen, die solchen Modellen eher zögerlich gegenüberstehen, würden hier durch die Gesetzesänderung motiviert, die elektronische Leistungsbestätigung zeitnah umzusetzen.
Was bringt das? Einfordern der Unterschrift bei Patient:innen, Kontrolle durch die Praxis und anschließende Übermittlung der händischen Unterschrift in Papierform an die Kassen bei rund 40 Millionen Heilmittelverordnungen im Jahr ist ein Bürokratiemonster. Mit der digitalen Leistungsbestätigung können Heilmittelerbringer:innen und Kassen auf einen Schlag vermutlich rund 1,5 bis 2 Prozent des Heilmittelhonorars an Bürokratie-/
Abrechnungskosten einsparen. Mal ganz davon abgesehen, dass das Honorar schneller in den Heilmittelpraxen ankommt.
3. Zentrale Interessenvertretung auf Bundesebene
Die Koalitionäre sollten öffentlich anerkennen, dass es für die Heilmittelbranche eine einheitliche, starke Interessenvertretung auf Bundesebene braucht, so wie es auch aus den Empfehlungen des Sachverständigenrats für das Gesundheitswesen abgeleitet werden kann. Das Vorbild dafür könnte der Deutsche Pflegerat sein, der 1998 gegründet wurde und heute als die politische Stimme der Pflegeberufe fungiert. Ausgestattet mit einem Antrags- und Mitentscheidungsrecht im G-BA kann der Deutsche Heilmittelrat Richtlinien für Heilmittelerbringer:innen aktiv mitgestalten. Zusätzlich sollte die Bundesregierung sicherstellen, dass Heilmittelerbringer regelmäßig in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden, z. B. durch eine gesetzlich vorgeschriebene Anhörung bei Gesundheitsreformen. Ist das kurzfristig umsetzbar? Ja, so können die Koalitionäre sofort die formalen Voraussetzungen dafür schaffen, um viele weitere ambitionierte Projekte umsetzen zu können (siehe unten). Etwas länger dauert dann die Umsetzung dieses Projekts.
Hier ist der strategische Fahrplan, den die Bundesregierung dann umsetzen müsste:
- Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) sollte in einem ersten Schritt eine Arbeitsgruppe einrichten, die mit Vertreter:innen der bestehenden Heilmittelverbände eine Struktur für eine zentrale Selbstverwaltung ausarbeitet.
- Diese Struktur muss in eine offizielle Körperschaft oder einen Dachverband überführt werden, die als einheitliche Interessenvertretung dient. Beispiel: Der Deutsche Heilmittelrat (analog zum Deutschen Pflegerat) könnte als zentrale Stimme der Branche etabliert werden. Dazu könnte
ein eingetragener Verein (e. V.) oder eine Körperschaft des öffentlichen Rechts (K. d. ö. R.) gegründet werden – je nach politischer Entscheidung. - Um den Deutschen Heilmittelrat arbeitsfähig zu machen, braucht es eine finanzielle Anschubhilfe durch das BMG – etwa für die ersten fünf Jahre, eine Art Förderprogramm zur Strukturierung der Heilmittelbranche. Vergleichbares findet sich beim Deutschen Pflegerat.
- Um die neue Organisation langfristig in der politischen Struktur zu verankern, muss sie im SGB V festgeschrieben werden.
Was bringt das? Viele große Reformen der Heilmittelbranche bleiben seit Jahren liegen, weil rund 17 verschiedene Heilmittelverbände es nicht schaffen, ein Verfahren zu entwickeln, dass der Politik ein klares Meinungsbild und einen übergeordneten Ansprechpartner liefert. Das nervt seit Jahrzehnten die Politiker aller Parteien. Gäbe es so etwas wie den Deutschen Heilmittelrat, dann könnte er die anstehenden großen Reformen für die Heilmittelbranche strategisch begleiten:
- Berufsgesetze modernisieren → Anpassung der Heilmittelberufsgesetze an heutige Anforderungen.
- Versorgungsforschung umsetzen → Heilmittelkatalog im G-BA so reformieren, dass Evidenz als Grundlage für Heilmitteltherapie zum Standard wird. Wo Studien fehlen, könnte Forschung initiiert werden.
- Vergütungssystem reformieren → weg von Einzelleistungsvergütung hin zu modernen Honorarmodellen, die dem Fachkräftemangel Rechnung tragen.
- Direktzugang umsetzen → Gesetzliche Verankerung des Direktzugangs in den Heilmittelberufen.