Nach einem Schlaganfall gemeinsam den Weg zurück ins Leben finden

In Deutschland erleiden jährlich rund 270.000 Menschen einen Schlaganfall. Er kommt plötzlich und hat oft gravierende Folgen für den Betroffenen wie auch für seine Angehörigen. In Schleswig-Holstein werden seit 2020 Patientinnen und Patienten von sogenannten Bezugstherapeutinnen und -therapeuten begleitet, die sie auf ihrem Weg zurück ins Leben unterstützen. Eine von ihnen ist die Lübecker Physiotherapeutin Ulrike Honnens. Sie war 2019 eine der ersten Bezugstherapeut:innen. Eine spezielle Schulung ist Teil des dreijährigen „Projektes Bezugstherapeuten für Schlaganfallpatienten“ (BZT), das die Patientenorganisation Schlaganfall-Ring Schleswig-Holstein (SRSH) Ende 2018 entwickelt hat (siehe Info-Box). Ulrike Honnens hörte erstmals 2019 bei einem Regionaltreffen vom Schlaganfall-Ring davon. Sie fand das Projekt so spannend, dass sie sich gleich für eine Teilnahme entschied. Denn bislang hatte auch sie die Erfahrung gemacht, dass die interprofessionelle Zusammenarbeit in der ambulanten Nachsorge nach einem Schlaganfall kaum vorhanden war. Das hatte zur Folge, dass die Therapien häufig unabgestimmt parallel durchgeführt wurden und sich in den ungünstigsten Fällen sogar gegenseitig behinderten. Voraussetzung ist die Arbeit im neurologischen Bereich Als Physiotherapeutin, die überwiegend im neurologischen Bereich arbeitet, erfüllte die 51-jährige Praxisinhaberin die Zulassungsvoraussetzungen und absolvierte die Schulung in den Monaten August bis November 2019. Mit dem Zertifikat in der Tasche ist sie nun berechtigt, gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten die Heil- und Hilfsmittelleistungen zu koordinieren. Dazu gehören zum Beispiel die Kommunikation mit den anderen behandelnden Therapeut:innen, mit Ärzt:innen und den Hilfsmittellieferant:innen. Schlaganfall-Ring-Box hilft bei Erkennen der Defizite „Die Arbeit als Bezugstherapeutin unterscheidet sich fundamental von der Arbeit in meiner Praxis“, fasst Ulrike Honnens ihre Erfahrungen nach mehr als zwei Jahren zusammen. „Ich sehe den Patienten nicht in meiner Profession, sondern ich arbeite quasi als übergeordnete Instanz und schaue mir an, wo seine speziellen Defizite liegen.“ Hilfreich für die Kommunikation mit der Patientin oder dem Patienten ist dabei eine vom SRSH herausgegebene Schlaganfall-Ring-Box, eine Kunststoff-Box mit einem sechsteiligen Register und 84 Karten im DIN-A6-Format. Diese basieren auf dem weltweit etablierten Standard International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF), die für die Kommunikation mit den Betroffenen genutzt werden kann. Ergänzend stellt der SRSH Bezugstherapeut:innen ein Dokumentationstool zur Verfügung. Dort können sie die Therapieschritte sowie die Fort- schritte der Patient:innen festhalten. Gemeinsam mit Patienten Behandlungsziel festlegen In enger Abstimmung mit den Betroffenen sorgen die Bezugstherapeuten für den „roten Faden“ in der interdisziplinären ambulanten Behandlung. Grundlage sind die zentralen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten. In Absprache mit ihnen werden Behandlungsziele festgelegt – immer mit dem Blick darauf, was sie können und was sie erreichen möchten. „Ein Patient hatte beispielsweise das Ziel, sich im Stehen wieder waschen zu können“, erinnert sich die Therapeutin. Für einen Rollstuhlfahrer ein nahezu unerreichbarer Traum, „aber immerhin schaffte er es auf- grund der guten Therapie und einer sehr guten Eigenmotivation schließlich wieder am Stock gehen zu können“. Eigenverantwortung als Schlüssel zur Rückkehr ins Leben Für das Projekt „Bezugstherapeut“ kamen nur solche Patientinnen und Patienten infrage, die in mehreren therapeutischen Bereichen einen Therapiebedarf aufwiesen. Des Weiteren sollten sie kognitiv und körperlich in der Lage sein, sich alltagsrelevante Ziele zu setzen und diese auch zu verfolgen. Eine wesentliche Rolle für den Erfolg des Projektes spielte die eigene Motivation des Betroffenen. „Wir behandeln die Menschen nicht, sondern wir coachen sie in der ambulanten Nachsorge. Wir tragen sie nicht durch die Therapie – Eigenverantwortung ist der Schlüssel, um ins Leben zurückzukommen.“ Betreuung von einer Stunde täglich bis zu einmal im Monat Je nach Schweregrad der Schlaganfallfolgen betreute die Physiotherapeutin ihre insgesamt zwölf BZT-Patientinnen und Patienten entweder in ihrer Praxis, oder sie besuchte sie zu Hause. Auch die Betreuungsdauer variierte von Patient zu Patient – von einer Stunde täglich bis zu einmal im Monat. „In den meisten Fällen dauerte die Betreuung maximal drei Monate, danach konnte sie reduziert werden“, berichtet Ulrike Honnens. „Zusätzlich zur Betreuung der Patienten kamen die Abstimmungen mit den anderen behandelnden Therapeuten und den Ärzten.“ Sie hat diese Zusammenarbeit als überaus positiv empfunden, „und die Corona-Pandemie hat einiges auch erleichtert“ fügt sie schmunzelnd hinzu. „Man musste nicht unbedingt vor Ort sein, man konnte beispielsweise mit den Angehörigen telefonieren oder mit meinen Kollegen Videokonferenzen abhalten.“ Monatliche Abrechnung mit dem Schlaganfall-Ring Abgerechnet wurde der erhöhte Versorgungsaufwand mit dem Schlaganfall-Ring. Am Ende des Monats wurden alle Stunden, die im Rahmen der Betreuung als Bezugstherapeutin erbracht wurden, aufgelistet – dazu gehörten neben der Betreuung des BZT-Patienten auch Telefonate mit Angehörigen sowie Gespräche oder Videokonferenzen mit allen beteiligten Behandler:innen. Ein weiterer Vorteil, denn diese Art von Wissensaustausch werde in der normalen Behandlung nicht vergütet, so die Physiotherapeutin. Schulung bereichert Versorgung der eigenen Patienten Zwei ihrer BZT-Patienten behandelt Ulrike Honnens heute noch physiotherapeutisch weiter. „Die meisten aber sind nach Ablauf des Projektes bei ihren behandelnden Therapeuten geblieben.“ Und zwei ihrer Patienten aus der Praxis habe sie auch an das Projekt vermitteln können, freut sie sich. „Es war nicht der Sinn des BZT-Projektes, neue Patienten zu gewinnen.“ Das Projekt „Bezugstherapeut“ endete 2022. „Wenn es jetzt wieder eine neue Schulungsreihe geben würde, könnte ich sie jedem Kollegen, der mit Menschen mit neurologischen Erkrankungen arbeitet und an interprofessioneller Zusammenarbeit interessiert ist, wärmstens empfehlen“, so Ulrike Honnens. „Die Schulung bereichert die Versorgung der eigenen Patienten.“ Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis als großen Vorteil empfunden Für Ulrike Honnens war die Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis einer der größten Vorteile der Zusatzqualifikation. „Viele Inhalte, die ich in meinem Studium kennengelernt habe, kann ich jetzt in meiner Therapie besser umsetzen.“ Als Beispiel nennt sie die ICF, mit deren Hilfe die aktuelle Funktionsfähigkeit des Betroffenen beschrieben werden kann. Und nicht zu unterschätzen sei der Austausch mit den anderen Berufsfeldern. „Den Blick über den eigenen Tellerrand - auf Augenhöhe und Hand in Hand – habe ich besonders geschätzt.“ Projekterfahrungen in Praxisalltag anwenden Nach dem Ende des BZT-Projekts findet nun an der Christian-Albrechts-Universität (CAU) zu Kiel die Auswertung statt. Aber die Erfahrungen bleiben, und „ich wende sie weiterhin in meinem Praxisalltag an, um den Patienten in der Physiotherapie einen besseren Blick auf das Gesamterscheinungsbild des Schlaganfalls und die Notwendigkeit, Ziele zu benennen und eigenverantwortlich zu erkämpfen, zu ermöglichen“, so Ulrike Honnens. Nach dem Projektende sprachen sich in einer Umfrage unter den ersten 18 Bezugstherapeutinnen und -therapeuten alle Befragten für eine Ausweitung der Konzeption auf andere Regionen und andere Krankheitsbilder wie Multiple Sklerose und Parkinson aus. Ob das Projekt Schlaganfall-Bezugstherapie künftig auch in anderen Bundesländern umgesetzt wird, ist noch nicht sicher. Aber es gibt Bestrebungen, es auch in Süddeutschland zu etablieren ... Hintergrund zum Projekt Das Projekt „Bezugstherapeuten für Schlaganfallpatienten“ (BZT) hatte der SRSH Ende 2018 unter wissenschaftlicher Begleitung des Instituts für Allgemeinmedizin der Christian-Albrechts-Universität (CAU) zu Kiel und in Kooperation mit dem Hausärzteverband Schleswig-Holstein entwickelt, um die ambulante Versorgung von Schlaganfall-Patient:innen im Land zu verbessern. Die komplexe Intervention ‚Schlaganfall-Bezugstherapie‘ als personenzentrierte, teilhabeadressierende, koordinierte Heil- und Hilfsmittelversorgung war auf drei Jahre befristet und wurde vom Land Schleswig-Holstein durch Mittel in Höhe von 259.200 Euro aus dem Versorgungssicherungsfonds gefördert. Teilnehmen konnten ausgewählte Heilmittelerbringer:innen aus den Berufsfeldern Physio- und Ergotherapie sowie Logopädie, deren Praxis Partner in einem der vier SRSH-Kompetenznetze waren. Weitere Infos zu dem Projekt findet Ihr hier: „Wir wollen die interprofessionelle Teamarbeit fördern“ - SRSH-Vorsitzender fasst erste Ergebnisse des BZT-Projektes zusammen