„Uns Therapeuten wird ein gewisser Grad an Verantwortung und Einschätzungsvermögen abgesprochen“

Telemedizinische Leistungen (TML) sind in der Physiotherapie seit dem 1. April 2022 Teil der Regelversorgung. Soweit die Theorie, aber wie sieht es in der Praxis aus? Darüber haben wir mit Udo Prösdorf aus Pegau gesprochen und ihn nach seiner Meinung zu den vereinbarten Vorgaben und ihrer Umsetzung im Praxisalltag gefragt. Herr Prösdorf, die ambulante Versorgungssituation bleibt angespannt. Hatten Sie schon Patientinnen und Patienten, bei denen eine Versorgung ohne TML langfristig nicht möglich gewesen wäre? In den Zeiten, in denen wegen Corona Kontaktbeschränkungen galten, auf jeden Fall. Der Einstieg in die Videotherapie kam mir zugute, da ich Anfang 2021 an Corona erkrankte und von zuhause meine Patientinnen und Patienten behandeln konnte, die dafür zu uns in die Praxis kamen. Können TML aus Ihrer Sicht dabei helfen, Wartezeiten zu verkürzen und regionale Versorgungslücken abzumildern? Ja, da wir in einem ländlichen Raum wohnen und unsere Patientinnen und Patienten verstreut leben. Trotzdem muss ich als Therapeut bei jeder Person entscheiden, ob es aufgrund ihres Krankheitsbildes Sinn macht. Da gibt es durchaus Grenzen, ich sehe aber mehr das Potenzial. Die Präsenztherapie gilt als derzeit etablierter fachlicher Standard. Deshalb ist die Anzahl der Einheiten je vorrangigem Heilmittel begrenzt, die telemedizinisch erbracht werden dürfen. Decken die vereinbarten Grenzen den tatsächlichen Bedarf ab? Nein. Ich finde, es wird uns Therapeutinnen und Therapeuten ein gewisser Grad an Verantwortung und Einschätzungsvermögen abgesprochen. Ich kann doch am Krankheitsbild festmachen, ob die Patientin oder der Patient eher zu mir in die Praxis kommen muss oder wir die Therapie auch per Video stattfinden lassen können. Ärztinnen und Ärzte dürfen TML bei Vorliegen eines wichtigen Grundes ausschließen. Kennen Sie Fälle, in denen das passiert ist? Nein. Ich finde den Prozess auch nicht rund, dass die Ärztin oder der Arzt entscheidet, ob Videotherapie durchgeführt werden kann oder nicht. Meistens ist zum Beispiel gar nicht bekannt, wie die technische Infrastruktur, die Bandbreite und die digitale Affinität bei der Patientin oder dem Patienten aussehen. Diese Entscheidungsgewalt der Ärzteschaft zu überlassen, finde ich nicht richtig. Das kann die zu behandelnde Person besser. Haben sich Patientinnen und Patienten schon einmal für TML als Privatleistung entschieden? Ja, vor allem bei Schulterbehandlungen nach einer Operation haben wir gute Ergebnisse erzielen können. Hier haben wir den Großteil der Behandlung als Videotherapie durchgeführt. Seit 2020 sind TML schon als Ergänzung der Präsenztherapie möglich. Wie haben Sie seitdem Ihre Maßnahmen an das digitale Therapiesetting angepasst? Die Anpassung fand schon vorher statt, da wir uns Ende 2019 intern umstrukturiert hatten. Damals rüsteten wir unsere Hard- und Software auf. Als der gesetzliche Rahmen für TML kam, haben wir gemerkt, dass bei uns alles so weit passte. Dann haben wir entsprechend nach außen kommuniziert, um Patientinnen und Patienten gezielt auf das Angebot der Videotherapie hinzuweisen. Welche therapeutischen Geräte und Hilfsmittel nutzen Sie für die telemedizinische Behandlung? Wir schauen uns stets die Lebenswelt unserer Patienten und Patientinnen an. Durch den Einblick in das Patienten-Wohnumfeld können wir schnell erkennen, was schon vorhanden ist. Das kann zum Beispiel eine gefüllte Wasserflasche anstelle einer Hantel sein. Die Bestätigung der TML kann in digitaler Form, per Fax oder nachträglich beim nächsten Präsenztermin erfolgen. Was ist in Ihrer Praxis Standard? Die meisten Patient:innen kommen für die schriftliche Leistungsbestätigung zu uns in die Praxis. Viele haben gegenüber der Verschlüsselung der digitalen Leistungsbestätigung Berührungsängste. Zur Dokumentation der Behandlung trägt die Therapeutin oder der Therapeut “TM” als Kürzel auf der Verordnungsrückseite ein. Gleiches gilt in der Ergotherapie, in der Logopädie dagegen “TML”. Wie ist Ihre Meinung zu dieser unterschiedlichen Regelung? Ähnlich wie bei den Unterbrechungsfristen kann ich diesen Umstand nicht verstehen. Ich gehe davon aus, dass gleiche Regeln das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den verschiedenen Berufsgruppen stärken könnten. Wir alle haben nämlich denselben Versorgungsauftrag. Zur Vermeidung eines Beschäftigungsverbots dürfen schwangere Logopädinnen bereits laufende Therapien in der eigenen Häuslichkeit fortführen. In der Ergotherapie gibt es andere Ausnahmefälle, die TML außerhalb der Praxisräume erlauben, etwa bei häuslicher Quarantäne der Therapeutin oder des Therapeuten. Welche Regelung wäre in der Physiotherapie sinnvoll? Wenn gilt, dass ich zu einem gewissen Prozentsatz von zuhause aus behandeln darf, dann finde ich es nicht passend, gleichzeitig in der Praxis therapieren zu müssen. Wenn wir eine Möglichkeit nutzen dürfen, die uns ortsunabhängig macht, warum dürfen wir dann nicht frei entscheiden, wie wir die Verteilung gestalten? 2022 bis 2024 sollte es für die Anschaffung von Hardund Software eine jährliche Pauschale geben. Weder die konkrete Umsetzung noch die Höhe der Erstattung sind bislang geklärt. Was mussten Sie neu anschaffen? Wir mussten kabellose Headsets und Kameras anschaffen. Wie hoch müsste die Pauschale sein, um Ihre Anschaffungskosten zu decken? Es gibt zu viele Faktoren, die eine pauschale Antwort erschweren. Natürlich kann ich mir als Praxis eine gewisse Grundausstattung kostengünstig anschaffen. Für mich ist die ausstehende Pauschale jedoch nicht zu Ende gedacht, da Videotherapie ein Modul der allgemeinen Digitalisierung in Heilmittelpraxen darstellt. Dann spielt auch eine Rolle, ob die Praxis im Allgemeinen netzwerktechnisch ausgebaut ist. Angenommen die nächsten Verhandlungen für TML stünden bevor. Was wünschen Sie sich für die physiotherapeutische Versorgung? Zum einen wünsche ich mir, dass die regulativen Grenzen entfallen, zu wie vielen Teilen ich die Therapie als Videotherapie stattfinden lassen darf. Ich möchte das in Eigenverantwortung bestimmen. Außerdem wünsche ich mir klare Fahrpläne zur Telematikinfrastruktur, in denen die Videotherapie eingebettet ist und ich ihr volles Potenzial ausschöpfen kann. Herr Prösdorf, vielen Dank für das Gespräch.