Teil- oder Vollakademisierung – Das ist nicht die Frage!

Das Bundesgesundheitsministerium hat im August unter anderem an die Physiotherapieverbände eine Befragung zum Thema Akademisierung geschickt. Über das Für und Wider einer Teil- oder Vollakademisierung entfachte in der Branche eine Diskussion. Aber: Wer darüber diskutieren möchte, braucht eine gemeinsame Vorstellung über die Rolle der Heilmittelerbringer in zehn Jahren. Mal ein bisschen überspitzt dargestellt. Wir wollen in den Urlaub fahren. Es beginnt eine hitzige Diskussion, ob wir mit dem Flugzeug, dem Auto oder doch lieber mit der Fähre unterwegs sein wollen. Aber: Sollten wir uns nicht erst einmal über das Reiseziel einigen, bevor wir das Verkehrsmittel diskutieren? Denn wollen wir auf die Malediven, wäre eine Anreise mit dem Auto gar nicht möglich. Fazit: Bevor wir über einen Weg diskutieren, sollten wir uns überlegen, wo wir eigentlich hin möchten. So ist es auch bei der Zukunft der Therapieberufe. In allen Heilmittelberufsgruppen gibt es erklärte Gegnerinnen und Gegner einer Vollakademisierung, die mit guten Argumenten begründen können, warum die Vollakademisierung auf keinen Fall kommen darf. Genauso viele gute Argumente haben die Befürworter:innen einer Vollakademisierung der Heilmittelberufe. Eine inhaltliche Annäherung beider Seiten ist nicht zu erkennen. Wer ein bisschen im Internet stöbert merkt: Die Gräben zwischen beiden Seiten werden immer tiefer. Aber wie können wir diese überwinden, um zu einem guten Ziel zu gelangen? Erstens: Konstruktiven Rahmen erarbeiten Ohne eine gemeinsame Idee darüber, welche Rolle die Heilmittelbranche bei der Versorgung der Bevölkerung in zehn Jahren, also 2033 spielt, ist die Diskussion über eine mögliche Vollakademisierung sinnlos. Die Entwicklung der Heilmittelbranche bis 2033 kann sehr unterschiedliche Wendungen nehmen. Daher brauchen wir ein gemeinsames Bild der Zukunft. Hier stellen sich vier Fragen: 1. Gibt es im Jahr 2033 einen von der GKV finanzierten Direktzugang für Patient:innen in die Heilmittelpraxis, ohne dass es dazu einer ärztlichen Verordnung/Indikationsstellung bedarf? Und wenn ja, bleibt es dabei, dass es diesen Direktzugang nur über den sektoralen Heilpraktiker gibt oder wird es eine durch fachliche Ausbildung erworbene Erlaubnis geben – ähnlich der ärztlichen Approbation? 2. Wollen Heilmittelerbringer:innen auf Dauer in getrennten Berufsgängen arbeiten? Oder wäre es nicht medizinisch sinnvoller, in Zukunft interdisziplinär zu arbeiten und auszubilden? 3. Wer soll im Jahr 2033 entscheiden, welche Therapie zu Lasten der GKV erbracht werden darf und welche nicht? Wenn es z. B. den Direktzugang gibt, dann ist es kaum einzusehen, warum Therapeut:innen so etwas wie den Heilmittelkatalog nicht selbst verfassen. Und wenn es den Direktzugang nicht gibt: Bleiben Heilmittelpraxen dann abhängig von den Verordnungen der Ärzt:innen? 4. Braucht Heilmitteltherapie eine eigenständige Versorgungsforschung? Reicht eine Versorgungsforschung im stationären Kontext, oder muss Versorgungsforschung dann auch in der Fläche, also in den ambulanten Praxen stattfinden? Was kann man tun? Ganz egal, wie Du die Zukunft der Heilmittelbranche siehst, wenn Du die oben aufgeführten Fragen für Dich beantwortet hast, bist Du dem Thema Zukunft der Heilmittelbranche einen großen Schritt nähergekommen. Du hast jetzt den konstruktiven Rahmen gefunden, um über die Themen, um die es in Wirklichkeit geht, zu diskutieren: Direktzugang, interdisziplinäres Arbeiten, Übernahme der Versorgungsverantwortung und -forschung. Wenn Du das nächste Mal mit jemandem über Akademisierung sprichst, frag zunächst nach den Zukunftsansichten, um abzuklären, ob Ihr davon das gleiche Bild habt. Zweitens: Wenn Zwei sich streiten entscheidet der Dritte Eigentlich spricht sich der Spitzenverband der Heilmittelverbände (SHV) für die Vollakademisierung aus. Das hindert aber einige Verbände nicht daran, im Internet gegen diese Entwicklung zu wettern. Diese ständige Uneinigkeit löst in Berlin so manches Mal ein Stirnrunzeln aus – und das auch zu Recht. Die Folge: Während die Heilmittelbranche noch streitet, wird die Politik über den Kopf der Therapeutinnen und Therapeuten hinweg entscheiden. Das kann niemand wollen. Was kann man tun? Auf dem nächsten Therapiegipfel des SHV sollte im Vordergrund stehen: Wie können wir die Attraktivität der Heilmittelberufe mithilfe der Diskussion um die Akademisierung erhöhen? Wichtig ist an dieser Stelle auch, die eigenen Ängste zu konkretisieren, um sie dann anbringen zu können. Es ist okay, wenn man sich fragt, wo man bleibt, wenn eine Akademisierung kommt. Aber die kurzfristige Perspektive darf langfristig wichtige Entscheidungen nicht bremsen. Fazit Die Heilmittelbranche wird sich verändern. Die Frage ist, in welche Richtung? Wenn wir mehr Mitsprache, mehr Verantwortung, ein eigenständigeres Arbeiten und endlich evidenzbasiert therapieren wollen, muss sich das Berufsbild der Therapeutinnen und Therapeuten in Deutschland wandeln. Dann müssen wir Veränderungen zulassen und so die Möglichkeit schaffen, dass die Heilmittelberufe endlich auch auf einer Stufe mit Ärzt:innen stehen – nicht nur fachlich, sondern auch in Bezug auf politische Mitbestimmung, Vergütung und Eigenständigkeit. Außerdem interessant: In den letzten zehn Jahren kaum Fortschritte bei der Akademisierung der Therapieberufe BMG: Weitere Befragung zur Ausgestaltung der Berufe in der Physiotherapie