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Blanko-VO: Ein „Ampelsystem“ ist ungerecht und falsch

Ergotherapeuten sollen bei Wirtschaftlichkeitsverantwortung schlechter gestellt werden als Ärzte
Die beiden ergotherapeutischen Heilmittelverbände DVE und BED haben Mitte Juni die so genannten „Big Points“ der vertraglichen Ausgestaltung bei den Vereinbarungen zur Blankoverordnung vorgestellt. Dazu gehören auch Vergütungsabschläge bei Überschreitung einer „roten Ampel“. Damit würden Ergotherapeutinnen und -therapeuten bei der Frage der Wirtschaftlichkeit schlechter gestellt als aktuell die verordnenden Ärzt:innen. Noch ist es nicht zu spät, diese ungerechte und sachlich falsche Regelung zu entschärfen. Dabei können alle helfen. Doch was ist eigentlich das Problem?
Blanko-VO: Ein „Ampelsystem“ ist ungerecht und falsch
© BadBrother

Der Gesetzgeber hat im Fünften Sozialgesetzbuch (SGB V) mit dem § 125a „Heilmittelversorgung mit erweiterter Versorgungsverantwortung“ die Blankoverordnung in die Regelversorgung eingeführt. Dazu hätten die entsprechenden Verträge ursprünglich bis zum 30. September 2021 abgeschlossen sein sollen. Das hat unter anderem deswegen nicht geklappt, weil die GKV bei jeder Gesetzesänderung davon ausgeht, dass es zu einer „unverhältnismäßigen Mengenausweitung“ kommen wird. Diese Angst hatten die Kassen schon bei der Einführung der bundeseinheitlichen Heilmittelpreise. Und sie kocht immer wieder hoch, wenn es um die Vereinbarungen zur Blankoverordnung geht.

Also hat sich der Gesetzgeber dieser Ängste angenommen und in den § 125a eine Regelung eingefügt, die die Wirtschaftlichkeitsverantwortung für Heilmittelerbringung im Rahmen der Blankoverordnung von den verordnenden Ärzt:innen auf die behandelnde Heilmittelpraxis überträgt. Damit können (müssen aber nicht!) in den Verträgen zur Blankoverordnung Vergütungsabschläge vereinbart werden, wenn eine durchschnittliche Anzahl an Behandlungseinheiten deutlich überschritten wird.

Das steckt hinter dem Ampelsystem

Um eine drohende Mengenausweitung nun sichtbar zu machen, haben sich die Ergotherapieverbände mit der GKV auf ein Ampelsystem geeinigt. Das soll so funktionieren: Es wird eine durchschnittliche Anzahl von Behandlungseinheiten je Indikation oder Indikationsgruppe vereinbart. Anhand der Ampelfarbe kann die behandelnde Therapeutin dann erkennen, ob die Behandlung des Patienten im grünen Bereich (also unterhalb der durchschnittlichen Anzahl), im gelben Bereich (also leicht über der durchschnittlichen Anzahl) oder sogar deutlich über der durchschnittlichen Anzahl und damit im roten Bereich ist.

Die Logik einer vorgegebenen Behandlungsmenge entspricht der orientierenden Behandlungsmenge des Heilmittelkatalogs – mit einem ganz entscheidenden Unterschied: Während sich Ärzt:innen an den Vorgaben des HMK bei ihren Verordnungen grob orientieren können, bleibt Ihnen dennoch die Möglichkeit, davon abzuweichen, ohne dafür sofort in Regress genommen zu werden. Denn in einer Arztpraxis wird die Frage nach der Wirtschaftlichkeit nicht auf einen einzelnen Behandlungsfall bezogen, sondern auf die Summe der Verordnungstätigkeit der Ärztin oder des Arztes. Das bedeutet für die Versorgung der Patient:innen, dass die Verordner:innen ihr Heilmittelbudget nach medizinischen Gesichtspunkten verteilen können, selbst wenn dann eine Patientin oder ein Patient unverhältnismäßig viele Behandlungseinheiten erhält.

Bei Heilmittelerbringern greift der Regress sofort

Während ein Arzt also erst dann in Regressgefahr gerät, wenn er in der Summe aller Heilmittelverordnungen sein Budget übersteigt, bedeutet das Ampelsystem, dass Heilmittelerbringer:innen bei jedem einzelnen Patienten, bei dem die Anzahl der möglichen Behandlungen überschritten wird, unmittelbar Vergütungsabschläge in Kauf nehmen müssen. Und zwar unabhängig davon, ob bei anderen Patienten die volle Anzahl von Behandlungen genutzt worden ist. Konkret melden die Ergotherapieverbände, dass für Therapieeinheiten, die in der roten Ampelphase erbracht werden, ein Abschlag in einer Höhe von 9 Prozent fällig werden soll.

Das heißt: Wer Patient:innen aus therapeutischen Gründen über die festgelegt Behandlungsmenge hinaus versorgen möchte, muss eine geringere Vergütung in Kauf nehmen.

Ein weiterer Unterschied zur Ärzteschaft: Ärzt:innen, die ihr Heilmittelbudget überschritten haben, können darüber hinaus darauf hoffen, dass andere Ärzte weniger verordnet haben. Denn solange eine KV das vereinbarte Heilmittelbudget in Summe einhält, gibt es in der Regel maximal einen bösen Brief ohne finanzielle Konsequenzen. Im Ampelsystem wird dagegen jeder einzelne Fall sanktioniert, selbst dann, wenn alle umliegenden Heilmittelpraxen im vorauseilenden Gehorsam vorsichthalber unter den vertraglich möglichen Behandlungseinheiten geblieben sind.

Das Ampelsystem ist dreifach ungerecht

Erstens: Ärzte können zur Einhaltung ihres Heilmittelbudgets ihre Behandlungsfälle miteinander verrechnen. Das können Heilmittelerbringer bei einem konsequent angewandten Ampelsystem nicht und müssen für jede Überschreitung mit Vergütungsabschlägen bezahlen. Das ist ungerecht.

Zweitens: Die KV kann zur Einhaltung des KV-Heilmittelbudgets die Verordnungszahlen aller Praxen miteinander verrechnen. Das können Heilmittelerbringer bei einem Ampelsystem auf keinen Fall und müssen für jede Überschreitung mit Vergütungsabschlägen bezahlen. Das ist doppelt ungerecht.

Drittens: Krankenkassen profitieren durch die fixen Vergütungsabschläge von der Wirtschaftlichkeitsverantwortung der Heilmittelpraxen. Selbst wenn alle Praxen unterhalb der vereinbarten Behandlungszahlen bleiben würden und sich die Angst der Kassen vor Mengenausweitung in Luft aufgelöst hätte, müssten einzelne Praxen bei Behandlungsfällen mit Überschreitung trotzdem mit Vergütungsabschlägen dafür Strafe zahlen. Und die Kassen würden trotz geringerer Behandlungsanzahlen profitieren. Das ist dreifach ungerecht.

Das Ampelsystem ist vierfach falsch

Das Ampelsystem ist nicht nur im Vergleich den Regressregelungen bei den Ärzt:innen ungerecht, es ist noch aus weiteren Gründen einfach falsch.

1. Kein Raum für individuelle Ausprägungen der Behandlung

Wenn Vergütungsabschläge bei Überschreitung einer bestimmten Anzahl von Behandlungseinheiten automatisch bei einem Behandlungsfall anfallen, dann gibt es KEINEN individuellen Spielraum für die Unterschiede unter den Patienten. Selbst die Heilmittel-Richtlinie des G-BA, die vergleichsweise stark in das Verordnungsgeschehen der Ärzt:innen eingreift, hat sich aus gutem Grund dafür entschieden, lediglich eine orientierende Behandlungsmenge zu empfehlen und die individuelle Versorgungsnotwendigkeit, ohne Wenn und Aber der Ärztin oder dem Arzt zu überlassen. Die Flexibilität, die hier bewusst eingebaut wurde, wird durch eine Ampellösung zunichte gemacht. Es muss auch bei einer Blankoverordnung den Therapeut:innen die Möglichkeit gegeben werden, Patientinnen und Patienten individuell zu versorgen, ohne sich damit einem Vergütungsabschlag auszuliefern. Alles andere wäre falsch!

2. Vereinbarung von durchschnittlichen Behandlungszahlen ist nicht durch wissenschaftliche Studien gedeckt.

Das Problem der mangelnden Evidenz, also der fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu, wie lange eine Patientin mit einem Heilmittel notwendigerweise therapiert werden sollte, zieht sich schon seit 2001 durch den Heilmittel-Katalog. „Glaube, Liebe, Hoffnung“ bzw. die Erfahrung von ärztlichen Funktionären als Autoren der Heilmittelrichtlinie aus der Zeit vor dem HMK, also aus dem vorigen Jahrhundert, prägen die orientierende Behandlungsmenge des HMKs vermutlich stärker als valide Studienergebnisse.

Wenn jetzt für das Ampelsystem noch einmal Behandlungsmengen vereinbart werden, dann muss zwingend die Frage beantwortet werden, auf welcher Basis solche Werte festgelegt werden. Und wenn Heilmittelverbände ohne wissenschaftliche Studien als Bezugsgröße solche Werte mit vereinbaren, dann ist das unverantwortlich und inhaltlich falsch!

3. Die Beteiligten gehen von grundlegend falschen Annahmen aus.

Die große Angst der GKV vor einer explodierenden Mengenausweitung der Heilmittelbehandlung bei der Einführung der Blankoverordnung sind schlicht und ergreifend unnötig. 2022 sind die verordneten und abgerechneten Heilmittelbehandlung zurückgegangen, trotz ordentlicher Honorarerhöhungen. Und das liegt nicht daran, dass Heilmittelpraxen nichts zu tun gehabt hätten, nein, die Wartelisten sind lang. Es liegt daran, dass es nicht genug Therapeutinnen und Therapeuten gibt. Und wo es nicht genug Fachkräfte gibt, ist die Mär von der Mengenausweitung schlicht und ergreifend Unsinn. Insofern ist das präventive Bedrohen von hart arbeitenden Therapeut:innen mit Vergütungsabschlägen für Blankoverordnungen unglaublich falsch!

4. Die gesetzlichen Vorgaben werden falsch interpretiert.

Bleiben noch die gesetzlichen Vorgaben. Denn irgendwer (meistens jemand von der GKV) kommt jetzt bestimmt um die Ecke und argumentiert, dass man solche Regeln zur Blankoverordnung ja vereinbaren müsse, schließlich würde das genau so im Gesetz stehen. Auch falsch:

  • Im SGB V §125a Absatz 2, Ziffer 6 steht, man „könne auch Vergütungsabschläge vorsehen“, eine Vorgabe für solche drakonischen Maßnahmen gibt es definitiv nicht.
  • Das Gesetz fordert unter derselben Ziffer, dass „Maßnahmen zur Vermeidung einer unverhältnismäßigen Mengenausweitung“ vereinbart werden sollen. Kein Wort einer Ampellösung. Stattdessen könnte eine solche Maßnahme auch sein, zeitnahe Daten über die Mengen der Blankoverordnungen zu Verfügung zu stellen. Wenn sich aus diesen Daten dann ein Mengenausweitung ergeben würde, könnte man die Ursachen analysieren und dort mit sinnvollen Maßnahmen ansetzen. Und dieser Vorschlag steht sogar im Gesetz.
  • Denn in § 125a, Abs. 6 wird festgelegt, dass es nach Vertragsabschluss über die Blankoverordnung einen Zwischenbericht an das BMG nach zwei Jahren und einen Abschlussbericht nach vier Jahren geben muss. Wenn der Gesetzgeber einen solchen Bericht für sinnvoll erachtet, warum warten wir dann nicht die Ergebnisse dieser Berichte ab, bevor wir ein unsinniges Ampelsystem vereinbaren?

Halten wir also fest: Es gibt keine gesetzliche Vorgabe, die die GKV und die Heilmittelverbände dazu zwingt, ein Ampelsystem mit finanzieller Bestrafung zu vereinbaren. Ganz im Gegenteil lässt das Gesetz nicht nur Raum für wissenschaftliche Evaluation und Intervention, sondern fordert das ausdrücklich ein. Die Behauptung der Verhandlungspartner das Gesetz zwinge zu einer Vereinbarung eines Ampelsystems wäre also atemberaubend falsch!

Ampelvereinbarung Vorlage für andere Berufsgruppen

Auch wenn hier erstmal nur von der Blankoverordnung und nur von der Ergotherapie die Rede ist, geht es doch um viel mehr. Zum einen wissen wir, dass Regelungen, die in einer Berufsgruppe vereinbart werden, auch schnell in anderen Berufsgruppen übernommen werden. Zum anderen hört es bei der Blankoverordnung nicht auf. Hier werden gerade die Weichen gestellt für die Regelung der Wirtschaftlichkeitsverantwortung in der Heilmittelbranche. Ein Thema, das auch beim Direktzugang eine wichtige Rolle spielt. Darum stellt sich jetzt die Frage, ob wir dieses System – mit all seinen Fehlern und Problemen – wirklich zum Standard für die Regelung der Wirtschaftlichkeitsverantwortung heute und in Zukunft werden lassen wollen.

Die Einzelheiten zu den bisher getroffenen Vereinbarungen zwischen der GKV und den Ergotherapie-Verbänden zum Thema Blankoverordnung könnt Ihr hier nachlesen: Ergotherapie: Big Points zur Blankoverordnung vereinbart
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Martin Klein
29.12.2023 16:35

Gewünscht hätte ich mir Lösungsvorschläge und nicht nur ein “so… Weiterlesen »

Hans Joachim Finger
23.06.2023 14:21

Eine wirtschaftliche Betrachtung der ganzen Praxis ist mit den bestehenden… Weiterlesen »

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