Wissen statt vermuten

Wir Menschen interpretieren unser Gegenüber ständig. An der Mimik und Gestik können wir viele Gemütszustände ablesen. Manche sehen sogar, wenn ein Kollege lügt oder sich verstellt, etwa nur so tut, als sei er fröhlich. Aber in Worten und Verhaltensweisen steckt auch eine Menge Spielraum für die eigene Auslegung. Unsere Erwartungen, Vorbehalte, vielleicht sogar Vorurteile führen dazu, dass wir manchmal etwas sehen, was gar nicht da ist. Daraus können unnötige Konflikte mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entstehen. Die Nichtbelastbare? „Guten Abend, ich muss mich leider für die kommenden drei Tage krankmelden.“ Wenn Du am Sonntagabend mal wieder eine solche Nachricht von Deiner Mitarbeiterin erhältst, seufzt Du mittlerweile nur noch laut auf und greifst zum Telefonhörer, um ihre Termine neu zu verteilen. Diese eine Mitarbeiterin ist wirklich überdurchschnittlich oft krank. Du hast schon häufiger überlegt, ob die weitere Zusammenarbeit noch funktioniert, aber aufgrund des Fachkräftemangels hältst Du an ihr fest. Du fragst Dich mittlerweile: Möchte sie nur ihr Wochenende verlängern? Nimmt sie sich ab und zu einfach mal ein bisschen mehr freie Zeit? Ist sie nicht belastbar? Hypothesen führen zu nichts Das Problem: Du wirst dieser Mitarbeiterin gegenüber immer unfreundlicher, beobachtest sie im Alltag genauer, bist bereits genervt, wenn sie eine Kaffeepause macht. Das führt zu Konflikten und eventuell sogar einer ungerechten Behandlung. Denn Du weißt nicht, was hinter ihrem Verhalten steckt, weil Du sie nicht fragst. Du interpretierst, stellst Hypothesen auf und wirst immer wütender, weil Du Dich im Recht siehst. Aber ist es wirklich so einfach, wie Du denkst? Was ist, wenn hinter den Krankschreibungen der Mitarbeiterin ernsthafte Gründe stecken und sie von sich aus einfach nicht über ihr Privatleben redet? Was, wenn sie unter einer chronischen Krankheit wie Migräne leidet oder ihren demenzkranken Vater zu Hause pflegt? Vielleicht versucht sie, alles unter einen Hut zu bekommen und scheitert daran ab und zu. Aktiv ansprechen Wenn Du Deine Mitarbeiterin nun einfach einmal in einem Gespräch unter vier Augen ganz konkret danach fragst, wird sie Dir wahrscheinlich den wahren Grund nennen: „Du hast in diesem Jahr bereits 15 Krankentage. Ich mache mir Sorgen und habe als Deine Chefin Dir gegenüber auch eine Fürsorgepflicht. Du musst hier nichts Privates erzählen, aber wenn Du magst, können wir darüber sprechen und nach Lösungen suchen.“ Nicht nur häufiges Fehlen kann Dich als Praxischefin gegen eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter aufbringen. Vielleicht kommt Dir eines der folgenden Szenarien bekannt vor? Auch hier gilt, einen Schritt zurückzutreten und Dich selbst kritisch zu hinterfragen. Was stört Dich gerade? Was ist Fakt und wo fängt Deine eigene Interpretation der Lage an? Der feine Herr von der Hochschule? Du stellst einen Therapeuten mit einem akademischen Abschluss ein. Im Vorstellungsgespräch hat der Kandidat immer wieder hervorgehoben, was er alles an der Hochschule gelernt hat. Fachlich ist er gut ausgebildet und Du brauchst seine Qualifikationen in der Praxis dringend. Aber Du denkst die ganze Zeit, dass er eh glaubt, alles besser zu wissen, hochnäsig ist und bestimmt die eingefahrenen Strukturen infrage stellen wird. Ist es wirklich so oder denkst Du es nur? Könntest Du nicht vielleicht auch von seinem etwas anderen Blickwinkel profitieren, statt ihn sofort kritisch zu beäugen? Wenn es Dir gelingt, seinen Vorschlägen gegenüber offen zu sein, können Du, das Team und die Praxis sicher von der einen oder anderen Idee profitieren. Die Extrawurst? Deine Therapeutin ist Mutter einer Tochter, das weißt Du. Sie ist fachlich sehr gut und die Patientinnen und Patienten lieben sie. Nur wenn es darum geht, im Notfall auch mal für kranke Kolleg:innen einzuspringen, ist sie komischerweise nie diejenige, die aushilft. Sie verlässt jeden Tag pünktlich die Praxis, während die anderen auch mal länger bleiben, wenn es sein muss. Selbst diejenigen, die selbst zwei oder drei Kinder haben, springen immer mal ein. Wie kann das sein? Hält sie sich für etwas Besseres? Nein, ihre Tochter hat besondere Bedürfnisse. Für sie ist es eine Katastro- phe, wenn sich die täglichen Abläufe auch nur geringfügig ver- schieben. Sie ist alleinerziehend und hat auch keine Eltern in der Nähe, die aushelfen können. Schon der normale Alltag bringt sie häufig an die Belastungsgrenze, aber darüber möchte sie bei der Arbeit nicht sprechen. Schubladendenken überwinden Unser Gehirn ist ständig damit beschäftigt, die komplexe Welt um uns herum zu sortieren. Dabei passiert es dann eben auch schnell, dass wir Menschen in bestimmte Schubladen stecken oder voreilige Schlüsse ziehen. Wenn wir uns das bewusst machen, ist der erste Schritt bereits getan. Denn dann haben wir die Chance, sie aus dieser Schublade in unserem Kopf wieder herauszuholen. Doch dafür brauchen wir Informationen – und die sollten wir durch Gespräche miteinander erhalten und nicht, indem wir übereinander reden oder wilde Vermutungen in unserem Kopf anstellen.