Vier-Tage-Woche: „Wir müssen innovativ denken und neue Wege gehen!“

Gesa, Du bist Inhaberin mehrerer Praxen, richtig?
Genau, wir haben uns im Landkreis Leer in den letzten 25 Jahren recht gut entwickeln können und haben mittlerweile acht Standorte mit circa 70 Mitarbeitern.
Wie ist es bei Dir? Spürst Du in Deinen Praxen auch den Fachkräftemangel?
Ja, das ist ein Problem, das auch wir seit vielen Jahren haben. Wenn ich an die Anfangszeit zurückdenke, das war 1998. Damals habe ich meine erste Praxis eröffnet und hatte eine ganz andere Situation. In dieser Zeit haben wir im Landkreis Leer die Möglichkeiten und Chancen von Ergotherapie und Logopädie erst einmal bekannt machen müssen. Die meisten Menschen kannten ausschließlich Physiotherapie. Seit zehn bis 15 Jahren ist eines unserer größten Probleme der Fachkräftemangel. Unsere Wartelisten werden immer größer, wir können unsere Patienten kaum noch so betreuen, wie wir uns das vorstellen. Hinzu kommt, dass viele Mitarbeiter in den letzten Jahren nicht mehr unbedingt in Vollzeit arbeiten möchten. Bewerbungsgespräche sind mittlerweile eigentlich so geworden, dass ich mich als Unternehmensverbund bei den potenziellen Mitarbeitenden bewerben muss. Das stärkt natürlich das Unternehmen und wir werden besser.
Und trotzdem nimmst Du an einem Projekt teil, das heißt „Vier-Tage-Woche ausprobieren – Test Pilotphase“. Wie bist Du darauf gekommen, Deine Mitarbeiter:innen nun auch noch weniger arbeiten zu lassen?
Ich selbst bin ja ein Workaholic. Ich habe die ersten 20 Berufsjahre eher 60 als 40 Stunden die Woche gearbeitet und habe mich bestimmt zwei Jahre richtig schwer damit getan, mich mit den Erwartungen und Bedürfnissen der Generation Z auseinanderzusetzen. Man denkt: Das kann nicht funktionieren. Wie soll das gehen? Eigentlich müssten wir doch alle mehr arbeiten und nicht weniger. Aber ich jammere und klage nicht gern. Ich möchte aktiv und innovativ sein und so kam es im September 2023, dass ich in der Zeitung einen Artikel gelesen habe, der diese Pilot- studie vorstellte. Da entstand in meinem Kopf sofort ein Funke. Was mich dabei direkt überzeugt hat, war, dass es eine Pilotstudie ist, die sagt: 100 Prozent der Leistung in 80 Prozent der Zeit bei 100 Prozent Bezahlung.
Das klingt wunderbar. Gab es Belege dafür, dass dieses Konzept funktioniert?
Die Studie wurde in Großbritannien schon durch- geführt und es stellte sich heraus, dass die Fluktuation der Mitarbeiter um die Hälfte zurückging, die Krankheitstage sogar um zwei Drittel und sich der Gewinn um 1,4 Prozent erhöhte. Das ist nicht viel, aber trotzdem ja eine gute Nachricht. Was ich außerdem gut finde, ist, dass die Universität Münster und nicht irgendeine Firma uns professionell begleitet. Was natürlich zudem charmant ist, dass ich mit dieser innovativen Idee vorweggehe und nicht erst an eine Vier-Tage-Woche denke, wenn sie schon überall eingeführt wurde.
Als wir im Oktober 2023 diese Idee der Vier-Tage-Woche an unsere Mitarbeiter herangetragen haben, lief bei uns in den Standorten aber bereits seit Februar ein Projekt, das hieß „Neue Leistungen seitens der Krankenkassen innovativ umsetzen“. Das bedeutet, dass wir in der Ergotherapie Parallelbehandlung und in der Logopädie Zweiergruppe machen. Die Vier-Tage-Woche war dazu natürlich eine super Ergänzung. Die komplette Leistung wird nun nicht in fünf, sondern in vier Tagen erbracht.
Diese Studie ist aber nicht kostenfrei, richtig? Du musst dafür zahlen. Was bekommst Du im Gegenzug dafür?
Das ist richtig. Wir zahlen pro Mitmachende, in unserem Fall ca. 1.500 Euro, aber wir bekommen dafür eine sehr intensive Beratung. Die Universität Münster begleitet uns umfassend. Sie haben direkt angefangen, uns zu schulen und haben uns auch mit anderen Firmen zusammengebracht. Sie sind auch in unseren Praxisverbund gekommen und haben Interviews mit allen Beteiligten geführt, aber auch mit denen, die nicht mitmachen wollten. Außerdem haben sie Haarproben entnommen, um den Cortisolspiegel zu testen, also das Stresslevel. Das wird dann am Ende der Studie wiederholt. Alle Mitarbeiter, die teilnehmen, haben auch einen Fitnesstracker bekommen. Das ist für uns auch wichtig, dass wir sicher- gehen, dass die Belastung für alle nicht noch höher wird, sondern dass das Projekt gut läuft.
Außerdem haben wir allgemeine Daten aus dem Vorjahr geliefert: Krankheitstage, Umsatzzahlen, Kündigungszahlen usw. Und wir befragen unsere Mitarbeitenden regelmäßig: Könnt Ihr Erfolge messen? Welche Rückmeldungen gibt es von Patienten? Wie geht es Euch mit dem zusätzlichen freien Tag?
Es gibt also Mitarbeitende im Team, die an der Studie teilnehmen und andere, die dies nicht tun, richtig? Wie viele machen mit?
Von rund 70 Mitarbeitern machen ungefähr zehn Therapeuten mit. Als wir das Projekt vorgestellt haben, gab es eine unglaubliche Begeisterungswelle, auch bei denen, die gar nicht mitgemacht haben. Viele finden es einfach gut, mal einen neuen Weg einschlagen zu können. Spannend ist, dass es nicht nur für junge Leute interessant war, sondern auch für Mitarbeitende, die schon sehr lange bei uns arbeiten, die einfach mal eine neue Work-Life- Balance-Perspektive brauchten.
Wie stelle ich mir die Vier-Tage-Woche denn genau vor? Ich habe bisher Eins-zu-eins-Behandlungen gemacht. Was ändert sich denn mit dem neuen Projekt für mich?
Wir haben unseren Mitarbeitern einen Leitfaden an die Hand gegeben, wie der Übergang in die Vier- Tage-Woche gelingen kann. Es gibt zum Beispiel die Regelung, dass man mindestens 35 Stunden die Woche an fünf Tagen arbeiten muss, um mitmachen zu können. Der Grund ist, dass wir einen Pool an Patienten haben müssen, um eben Parallel- oder Gruppenbehandlungen durchführen zu können. Dann haben wir die Mitarbeiter mit ins Boot geholt und gesagt: Du schaust jetzt einfach einmal, wie Du Deine Einheiten, die Du jetzt machst, auch in vier Tagen hinbekommst und schaust dabei auch, welche Deiner Patienten passen eigentlich gut zusammen – natürlich haben wir unterstützt. Und siehe da, mit dieser tollen Aussicht, einfach einmal fast 52 freie Tage mehr im Jahr zu haben, wuchs auch die Kreativität unsere Mitarbeiter. Für sie bedeutet das, sie haben so etwa sechs bis sieben Parallel- bzw. Gruppenbehandlungen in ihrem Vier-Tage-Wochenplan und dazu ja einen eigenen Benefit, indem sie nur noch vier Tage die Woche arbeiten müssen.
Und welche Parameter gelten noch?
Eine Vollzeitkraft arbeitet bei uns 40 Stunden die Woche. Diejenigen, die auf eine Vier-Tage-Woche gehen, arbeiten dann nur noch 32 Stunden bei gleichem Gehalt. Die Umsätze sind durch die Parallel- und Gruppenbehandlungen abgedeckt, sodass sie sich nicht ändern. So der Plan.
Was sagen denn die Patienten dazu, dass sie nun statt Einzel-, Gruppentherapie erhalten?
Wir erleben bei den Patienten, gerade bei den besonders jungen, aber auch älteren Menschen, wie sie in der Zweiersituation die Chance haben, das in der Therapie Erlernte auch direkt umzusetzen. Ein Beispiel dafür sind zwei Kinder in der Logopädie, die gemeinsam einen Laut trainieren. Das eine Kind war schon sehr weit, das andere fing gerade an. Und plötzlich merken wir, wie wir als Therapierende nur noch moderieren müssen, um einen Erfolg hinzubekommen. Der Rest findet in der Interaktion der beiden kleinen Patienten statt.
Bei den älteren haben wir einen Parkinson- und einen Schlaganfallpatienten zusammengebracht. Beide waren zuvor sehr isoliert und nun stellen sie fest, dass sie sich auch außerhalb der Therapie mal treffen können. Und auch unsere Therapeuten merken jetzt, dass Gruppe ein ganz spannender Ansatz ist. Das ist eigentlich der größte Erfolg, der durch unsere Umstellung passiert ist.
Wie geht es jetzt weiter mit der Studie?
Also die Studie geht bis Ende Juli und dann werden wieder Vergleichszahlen eruiert und ich als Unternehmerin gucke dann natürlich auf die Umsätze. Denn ich habe auch für den Rest der Mannschaft die Verantwortung, dass das Projekt auch finanziell gut läuft. Dazu gehört auch, dass wir schauen, ob die Leistungszahlen der Vier-Tage-Wöchler mindestens gleichgeblieben sind, sonst wäre es den anderen gegenüber auch unfair. Am Ende werden wir uns ein bis zwei Monate Zeit nehmen, um uns zu überlegen, ob es für uns so weitergeht oder eben nicht. Wenn wir zu dem Schluss kommen, wir wollen weiterma- chen, geht es natürlich darum, das Projekt auch auf andere Mitarbeitende auszuweiten. Da würde ich auf jeden Fall gerne Mut machen und motivieren.
Das klingt ja alles zu schön, um wahr zu sein. Was erhoffst Du noch als positive Effekte für Deine Praxis?
Wir waren in den letzten Wochen mehrfach in der Presse, haben Radio-Interviews geführt usw. Natürlich erhoffe ich mir im Hinblick auf den Fachkräftemangel und lange Wartelisten, dass sich neue Therapeuten für unsere Praxen interessieren, sodass sich unser interner Fachkräftemangel so vielleicht schnell erledigt. Vor allem auch, weil wir seit einem halben Jahr kaum noch Kündigungen haben.
Wir müssen uns alle vor Augen führen: Es geht so Vieles und es geht Vieles auch richtig gut, wenn wir uns darauf einlassen, Ideen entwickeln und diese ausprobieren. Wenn wir nicht anfangen, Dinge anders zu machen, als wir es gewohnt sind, können wir nichts verbessern. Ich habe es ja selbst erlebt, wenn vor mir Bewerbende sitzen, die einfach nicht bereit sind, 40 Stunden die Woche zu arbeiten, weil sie Sport treiben oder mehr Zeit für die Familie haben wollen. Wir müssen dann Wege schaffen, um eine Zusammenarbeit so möglich zu machen, dass sie für alle ein Gewinn ist.
Hörtipp Gesa Meyer-Brüna im up-podcastIhr wollt Euch das gesamte Gespräch mit Gesa Meyer-Brüna anhören? Kein Problem. Ihr findet es im up-podcast „Da war ein Funke in meinem Kopf – 4-Tage-Woche für Therapiepraxen“ unter: www.up-aktuell.de/vier-tage |